Völkermord an den Armeniern:"Die Geschichte wiederholt sich auf furchtbare Weise"

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Nach der Absage ihres "Aghet"-Konzertes in Istanbul: Der Komponist Marc Sinan und der Dresdner Intendant Markus Rindt kritisieren die Politik.

Von Helmut Mauró

Vor sechs Jahren initiierten Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, und der deutsch-türkisch-armenische Komponist Marc Sinan ein politisches Musiktheater mit Musikern aus der Türkei, Armenien und Deutschland. Ihr Projekt "Aghet", Klagelied, behandelt in Kompositionen von Sharafyan, Oehring und Gedizlioğlu den Völkermord an den Armeniern. Es hatte im vergangenen Jahr in Berlin Premiere, weitere Aufführungen folgen nun in Belgrad und Eriwan. Das Konzert im deutschen Konsulat von Istanbul ist dagegen abgesagt. Das deutsche Außenministerium hielt den Zeitpunkt für ungünstig.

SZ: Sie haben den türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan eingeladen. Warum?

Marc Sinan: Bis jetzt, zwei Wochen vor dem geplanten Konzerttermin, hat das deutsche Konsulat niemanden eingeladen. Ohne Einladung kommt man da aber gar nicht rein. Wir haben dem Konsulat vorgeschlagen, türkische Politiker anzusprechen, den Kulturminister, auch den Premier- und Außenminister. Das deutsche Außenministerium äußerte sich dazu nicht. Gleichzeitig haben wir erfahren, dass das Konsulat das Konzert schon abgesagt hatte. In einem Brief an Außenminister Frank-Walter Steinmeier haben wir dargelegt, dass es in absehbarer Zeit keinen geeigneteren Zeitpunkt für so ein Projekt geben wird, wenn es denn überhaupt jemals einen gibt. Gleichzeitig haben wir selber türkische Offizielle eingeladen.

Nun ist das Konzert abgesagt. Was können Sie tun?

Markus Rindt: Uns geht es nicht nur um einzelne Konzerte, sondern um die Langzeitwirkung. Deshalb wollten wir in Istanbul eine deutsch-türkisch-armenische Freundschaftsgesellschaft gründen, so wie in den Achtzigerjahren Mikis Theodorakis eine erfolgreiche griechisch-türkische Gesellschaft initiiert hat. Die gründen wir jetzt in Berlin.

Was soll dieser Klub bewirken?

Rindt: Es geht um die Aussöhnung zwischen Armeniern und Türken. Dazu wollen wir alle zwei Jahre ein wie auch immer geartetes gemeinschaftliches Projekt auf die Beine stellen. Die deutsche Beteiligung ist dabei mehr als nur ein moderierendes Element. Die Regierung des Kaiserreiches hätte den Völkermord verhindern können, deshalb ist auch Deutschland in der Schuld.

Warum ist der Begriff des Völkermords so wichtig? Behindert er momentan nicht eher die Verständigung zwischen Türken und Armeniern?

Intendant Markus Rindt. (Foto: Reuters)

Sinan: Seit 1915 hätte sich Deutschland damit auseinandersetzen und damals sogar noch Einfluss nehmen können auf das Schicksal der Armenier. Damals hat man aus Bündnistreue geschwiegen. Heute sehen wir, dass dies ein schweres Versäumnis war; der Bundestag hat die deutsche Mitschuld am armenischen Völkermord eingeräumt. In den letzten Wochen wurden in der Türkei Zehntausende Menschen entlassen, verhaftet, gefoltert und umgebracht. Dies ist auch möglich, weil wieder Verbündete der Türkei aus strategischen Gründen schweigen. Die Geschichte wiederholt sich auf furchtbare Weise.

Muss man nicht erst recht vorsichtig vorgehen, wenn man etwas verbessern will?

Sinan: Sicherlich richtet jede politische Verstimmung Schaden an, aber der Fehler wurde am Anfang gemacht. Um ihn nicht revidieren zu müssen, setzt man ihn immer weiter fort. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass genau dieses Verhalten das größte Leid verursacht hat und weiter verursacht. Deshalb muss der Begriff des Völkermords auf den Tisch. Man kann auch keine deutsch-israelische Freundschaftsgesellschaft gründen, ohne den Holocaust zu benennen.

Welche konkreten Auswirkungen haben denn Ihre Projekte?

Rindt: Eines haben unsere Musikprojekte ja jetzt schon bewiesen: Man redet über Genozide, die bislang gar kein Thema waren. Ich wüsste kein vergleichbares künstlerisches Projekt, das eine solche Wirkung gehabt hätte.

Sinan: Steinmeier spricht ja selber davon, dass die Traumata nur in der Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit bewältigt werden können. Und Deutschland ist an dieser Vergangenheit beteiligt.

Rindt: Er sagt sogar, Kunst und Musik seien der Schlüssel; deshalb wäre es gut gewesen, dies jetzt in die Tat umzusetzen.

Funktioniert Kulturaustausch überhaupt noch als Brückenschlag, oder ist er für die Politik nur noch Verfügungsmasse für Sanktionen?

Sinan: Die Tendenz ist da. Zumal es bis jetzt keine Reaktionen der Türkei gibt. Wir können uns nicht vereinnahmen lassen als politisches Instrument. Wir haben eine Haltung zu verteidigen.

Viele wollen Kunst nur als Unterhaltung.

Sinan: Das ist eine nicht minder politische Forderung. Wir aber können nur künstlerisch kreativ sein, wenn wir uns nicht kompromittieren. Für mich gibt es gar keine unpolitische Kunst, weil sie im Kern eine Frage von Haltung ist.

Rindt: Die Dresdner Sinfoniker haben immer Musikprojekte mit politischem Hintergrund gemacht, ob in Südamerika oder in Palästina oder sonstwo. Und das gilt auch für "Aghet" und künftige Projekte wie jenes mit ukrainischen und russischen Musikern. Im Übrigen kann man gerade jetzt die türkischen Künstler nicht im Stich lassen, da Erdoğan auch die EU-Programme wie Creative Europe aufgekündigt hat, die den Künstlern wenigstens ein Minimum an Unabhängigkeit garantierten.

© SZ vom 27.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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