Als im vergangenen Jahr das Mori Art Museum in Tokio seinen zehnten Geburtstag mit einer großen Schau zum Thema "Liebe" beging, versammelten die Kuratoren Werke von Constable und Millais bis Jeff Koons und Robert Indiana. An das Ende des Rundgangs aber hatten sie einen Raum gesetzt, der keinem Künstler gewidmet war, sondern einer Kunstfigur. Einer Figur, die jeder Japaner kennt, einem 16-jährigen Mädchen mit türkisfarbenen Zöpfen und dem Namen Hatsune Miku, das aussieht, als sei es einem Anime-Film entsprungen. Bemerkenswert findet das Tom Looser, Kulturanthropologe an der New York University: "Es wirkte, als ob Hatsune Miku der Endpunkt einer Entwicklung der Liebe sei."
Kann man Software lieben? Hatsune Miku ist nicht nur der größte Popstar der Welt, von dem die meisten Europäer noch nie etwas gehört haben. Hatsune Miku ist vor allem ein Computerprogramm, ein "Vocaloid", ein Stimmroboter. Über 100 000 Songs mit Hatsune Mikus Stimme gibt es, mehr als 170 000 Videos mit ihr stehen allein bei Youtube, eine Million Illustrationen kursieren von ihr im Netz - fast alle sind von Fans gemacht.
Hatsune Miku ist ein in der Geschichte des Pop beispielloses Kollaborationsprojekt. Ihre Alben haben Spitzenplätze in den japanischen Charts erreicht, als 3-D-Projektion gab sie ausverkaufte Konzerte in Tokio, aber auch in Taipeh, Singapur, Hongkong und Los Angeles. Sie war Solistin in der Ihatov-Symphonie, einer 2012 vom Japan Philharmonic Orchestra uraufgeführten Komposition Isao Tomitas, des heute 81-jährigen großen alten Manns der elektronischen Musik Japans. Und im Mai 2013 erlebte in Tokio die Oper "The End" des Komponisten Keiichiro Shibuya Premiere, in der Hatsune Miku in von Marc Jacobs entworfenen Kostümen die Hauptrolle spielte und sang.
Im vergangenen August feierte Hatsune Miku ihren sechsten Geburtstag in der Yokohama-Arena mit zwei Konzerten vor insgesamt fast 14 000 Zuschauern. Von ihrem sechsten Geburtstag zu sprechen, ist allerdings ein bisschen missverständlich, denn Hatsune Miku kam 2007 schon im Alter von 16 Jahren auf die Welt und ist seither offiziell nicht gealtert. Abgesehen davon, dass Hatsune Miku - der Name ist ein Kunstwort, das im Japanischen so viel wie "Erste Stimme der Zukunft" bedeutet - also ewige 16 Jahre alt ist, weiß man von ihr, dass sie am 31. August Geburtstag hat, 1,58 m groß und 42 kg schwer ist und türkises Haar hat, welches sie zu zwei fast bodenlangen Pferdeschwänzen gebunden trägt.
Ein unschuldiger, leerer Charakter
Dass das auch schon alles ist, was ihre Erfinder ihr an Hintergrund mitgegeben haben, gilt als eine der Wurzeln ihres Erfolgs. "Miku ist ein unschuldiger und leerer Charakter", sagt der japanische Medienwissenschaftler Mitsuhiro Takemura, "sie ist eine Existenz, die sich von jeder großen Erzählung befreit hat." Hatsune Miku kam als Leerstelle auf die Welt, die ihre Fans erst füllen mussten, als "eine Plattform, um unser eigenes Narrativ zu stricken", wie Takemura es ausdrückt.
Vocaloid ist ein seit 2004 von der Firma Yamaha vertriebenes Computerprogramm, das es ermöglicht, künstlichen Gesang zu erzeugen. Eine ganze Reihe von Unternehmen begannen damals, für Vocaloid-Nutzer Softwarepakete mit synthetisierten Stimmen anzubieten. Unter ihnen war auch Crypton Future Media. Die Firma von Hiroyuki Ito hat weit abseits der Trendfabriken von Shibuya oder Harajuku in Sapporo auf Japans Nordinsel Hokkaido ihren Sitz. Bis dahin war sie ein bodenständiger Hersteller von Musiksoftware, der professionelle Produzenten belieferte. Auch die Vocaloid-Technik richtete sich zunächst gar nicht an Endverbraucher. Nachdem das Geschäft mit den ersten Paketen nur schleppend lief, entschied man sich bei Crypton dafür, den Stimmen aus werbetechnischen Gründen Namen zu geben und durch Cover-Illustrationen im Manga-Stil auf den Verpackungen auch ein Äußeres. Es entstanden die weibliche Stimme Meiko und ihr männliches Pendant Kaito. Soweit entsprach das noch üblicher Marketingpraxis in Japan, wo fast jede Gemeinde ein eigenes Cartoon-Maskottchen hat und Manga-Figuren die Verkäufe unzähliger Alltagsprodukte ankurbeln.
Doch als der Comiczeichner KEI für die Packung der Hatsune-Miku-Software, für die die oft als "niedlich" beschriebene Stimme der Synchronsprecherin Saki Fujita gesampelt wurde, die Figur des Mädchens mit den türkisgrünen Zöpfen entwarf, fügte sich etwas zusammen, das Crypton einen unerwarteten Durchbruch auf dem Amateurmarkt verschaffte. Auf der einen Seite traf die androide Hatsune Miku mit ihrer überschlanken Figur, dem knappen Röckchen und dem Cyberpunk-Look optisch genau den Geschmack der animeverliebten Otaku-Kultur. Auf der anderen Seite war ihre leicht metallische Stimme, mit der sie in der Geschwindigkeit von 70 bis 150 Beats pro Minute singt, bestens mit dem hochgepitchten Sound des J-Pop kompatibel.