Virtuelle Welten:Ordnung oder Freiheit

Virtuelle Welten: Der Versuch, die Regeln parlamentarischer Demokratien im Spiel zu leben.

Der Versuch, die Regeln parlamentarischer Demokratien im Spiel zu leben.

(Foto: PR)

Das Projekt "Democraciv": Die Nutzer eines Computerspiels diskutieren über die Bedingungen politischer Teilhabe.

Von Philipp Bovermann

Einem Nutzer namens "octopodesrex" ist es zu verdanken, dass "England" im vergangenen Jahr eine demokratische Regierung bekommen hat. Denn eigentlich wird die Welt des Computerspiels "Civilization" von einem Autokraten beherrscht. Der Spieler baut per Mausklick Städte, erforscht Technologien und befehligt Armeen, alles im Alleingang, aus der göttlichen Vogelperspektive. Doch "octopodesrex" hatte eine Idee.

Wie wäre es, schrieb er im letzten Frühjahr auf der Online-Plattform reddit, einen fiktiven Staat zu gründen, um gemeinsam eine Partie "Civilization" zu spielen? Dessen Spielstruktur, eine komplexe Mischung aus Schach und "Die Siedler von Catan", sollte die zu besetzenden Ämter vorgeben. "Eine Person kümmert sich um die Diplomatie, eine um das Militär, eine um die Wirtschaft, und so weiter." Die Fans waren begeistert, begannen sich zu organisieren. Sie nannten ihr Projekt "Democraciv".

Man stelle sich vor, die Figuren beim Schach würden unterschiedliche Ziele verfolgen

Neun Monate und 250 Spielzüge später hat sich "England" von der Steinzeit bis an die Schwelle zur Moderne entwickelt. Die Spielentscheidungen fällt die Exekutive, bestehend aus den Bürgermeistern und den Ministern, die Legislative gibt die gesetzlichen Rahmen dafür vor. Ein Team von Moderatoren setzt sie bei den regelmäßigen Spielterminen in die Tat um, alle anderen Bürger schauen per Videostreams zu. Streitigkeiten regelt der "Supreme Court". Es gibt sogar eine eigene Presse. Auf dem Online-Forum von Democraciv finden die Wahlkämpfe statt, man liest aber auch von Rangeleien um Kompetenzen und Korruptionsvorwürfen. Die "Space Communists Party" hat dort jüngst ein digitales Pamphlet veröffentlicht, in dem sie die "GSI" ("Global Socialist Initiative") in bitteren Worten dafür kritisiert, in dem von ihr kontrollierten York lieber die Sixtinische Kapelle gebaut zu haben, anstatt sich am laufenden Krieg gegen Babylon zu beteiligen.

Die GSI setzt nämlich auf einen "Kultursieg". Es ist in Civilization 5 möglich, eine Partie mit friedlichen Mitteln zu gewinnen. An den unterschiedlichen Strategien hinsichtlich der Spielziele richten sich die Parteiprogramme aus. Die GSI bildet derzeit eine Koalition mit der "Commercial Expansion Party", die einen Wirtschaftssieg präferiert; die "Space Communists" und die "National Democrats" hingegen streben einen Sieg mit militärischen Mitteln an.

Das Streitpotenzial, das aus dem Vorwurf an die "GSI" spricht, ist offensichtlich. Man stelle sich vor, die verschiedenen Spielfiguren bei einer Partie Schach würden unterschiedliche Ziele verfolgen. Ungefähr so müssen die sogenannten Machertypen, die derzeit die reale Welt übernehmen, demokratische Systeme und ihr politisches "Establishment" sehen: Als einen ineffizienten Sauhaufen von Bürokraten und Space-Kommunisten. Entsprechend heftig werden die Diskussionen teilweise geführt.

Der Bürgermeister von Idaho, zugleich einer der Moderatoren des Spiels, ein Spieler namens Nuktuuk, glaubt trotzdem, dass Democraciv weiter bestehen wird. Die Anfangsphase war chaotisch, aber gemeinsam mit einem Team hat er im Sommer eine 28-seitige Verfassung erarbeitet. Sie regelt Kompetenzen und bildet so einen gemeinsamen Referenzrahmen, mit dessen Hilfe Streitigkeiten beigelegt werden können. "Das Schlimmste haben wir hinter uns", sagt er.

Kürzlich musste Nuktuuk eine schwere Entscheidung treffen. Beim Eintritt in das Zeitalter der Moderne muss der Spieler in Civilization 5 zwischen drei "Ideologien" wählen: Autokratie, Freiheit oder Ordnung. Die Wahl hat erheblichen Einfluss auf den weiteren Spielverlauf. Zunächst endete die Abstimmung mit einem Unentschieden, Ordnung und Freiheit hatten jeweils exakt fünfzig Stimmen bekommen. Der Hauptmoderator, der das Patt hätte beenden können, war im Urlaub, nur Nuktuuk war als einziger Moderator zur Stelle, die Parteispitzen drängten, eine Entscheidung musste her.

In den Chat-Protokollen, die der Democraciv-Nachrichtenkanal "The Globalist" später veröffentlichte, kann man nachlesen, wie sich Nuktuuk um Schadensbegrenzung bemühte. Der Vorschlag kam auf, er solle einfach eine Münze werfen. Ein besonders mächtiger Nutzer drohte sogar, ihn vor dem "Supreme Court" zu verklagen, wenn er es nicht täte. Schließlich lenkte Nuktuuk ein, die Münze entschied, und "England" wurde ein freies und kein kommunistisches Land, das nämlich hätte die "Ordnung"-Ideologie bedeutet. "Ein Münzwurf, an den man sich noch erinnern wird", schrieb der "Globalist". Der nationaldemokratische Bürgermeister von "London" mahnte in den Kommentarspalten, damit würde ein "gefährlicher Präzedenzfall" geschaffen. Er ermutigte jeden Bürger, die Entscheidung anzufechten, "zum Wohle unserer Demokratie".

An Stellen wie diesen ist man sich nicht mehr sicher, wo die Grenze zwischen Rollenspiel und Gaming verläuft. Staatsmodelle zum Mitspielen gibt es schon länger, in Deutschland zum Beispiel den "Modell-Bundestag", Schulen bieten sie teilweise zur politischen Erziehung an. "Das Problem daran ist, dass da nur Ideen auf dem Papier aufeinander treffen", sagt Nuktuuk. "In Democraciv hingegen hat jede politische Entscheidung konkrete Konsequenzen innerhalb des Games."

So erst stellt sich die Frage, ob der Aufruf zur Verteidigung der Demokratie durch den Bürgermeister Teil des Demokratie-Rollenspiels war - oder ob er einfach nur auf der Gameplay-Ebene unbedingt die "Ordnung"-Ideologie haben wollte und daher auf der demokratischen Legitimität der Abstimmung beharrte. Durch die Verzahnung der beiden Spielebenen, jeder Bürger von "Democraciv" ist zugleich ein Bürger von "England", entsteht eine Doppelbödigkeit. Es gilt, wie in der echten Politik, zwischen Prinzip und Pragmatik abzuwägen.

Die Spieler stellen alles infrage. Sogar die Notwendigkeit des Siegens

Vielleicht ist Democraciv deshalb gut für eine Epoche, in der sich diese Frontlinie erheblich verschoben hat. In Gestalt von Donald Trump laviert sich ein zynischer Brachial-Pragmatismus an den Fakten vorbei. Vom Typus her ist er ein Zocker, der Action und Siege will. Bei Democraciv hingegen geben Spieler freiwillig ihre souveräne "Singleplayer"-Kontrolle über das Geschehen ab: Sie tauschen "Gameplay" gegen "Roleplay" ein, die direkte körperliche Einflussnahme gegen das performative "als ob". Dieses bildet die Grundlage nicht nur von Anstand, Höflichkeit und Kultur, sondern auch von Versprechen und Schwüren: Ich tue so, als ob ich jetzt schon wissen kann, was ich in der Zukunft einmal tun werde.

Mit Democraciv lässt sich - als Modell eines demokratischen Gamings oder einer "gamifizierten" Demokratie mit "Spielräumen" - überhaupt erst wieder eine offene Frage nach der Zukunft stellen. Der ökonomisch orientierte Neo-Pragmatismus ist ja letztlich nichts als eine sich politisch verfestigende Ohnmacht gegenüber dem freien Spiel der Märkte. Die Democraciv-Spieler hingegen treten einen Schritt auf eine Meta-Ebene zurück, anstatt innerhalb der programmierten Regeln von Civilization und der in ihnen festgeschriebenen Zukunft zu bleiben. Besonders radikal tut das eine der Parteien, die sich "Nihilistic English Order" nennt. Sie verfolgt keines der möglichen Spielziele, sondern stellt den intrinsischen Wert eines Sieges überhaupt in Frage. "Warum sollten die festgelegten ,Siegbedingungen' irgendeine Macht über uns als Individuen haben?", fragt sie in ihrem Manifest.

Wird es einen solchen zivilen Ungehorsam auch einmal gegen andere autokratische Computerspiele im weiteren Sinn geben, gegen Facebook etwa?

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