Süddeutsche Zeitung

Virtuelle Realität im Film:Du bist einer von ihnen

Regisseur Alejandro Iñárritu und Kameramann Emmanuel Lubezki haben einen Sonder-Oscar für ihren VR-Film erhalten, der das Flüchtlingselend an der US-Grenze zu Mexiko unmittelbar erleben lässt.

Von Jürgen Schmieder

Irgendwann, und das ist das Wahnwitzige an dieser Virtual-Reality-Erfahrung, kniet der Besucher im Sand und hält zitternd seine Hände über den Kopf. "Get down", brüllt ein Beamter des amerikanischen Grenzschutzes und hält einem ein Gewehr ins Gesicht: "Hands where I can see them!" - "Hände dorthin, wo ich sie sehen kann!" Ein Blick nach rechts, dort wird gerade ein Menschenhändler abgeführt. Blick nach hinten, da bittet ein mexikanischer Flüchtling hinter dem Busch, ihn nicht zu verraten. Blick nach vorne, weil einen der Beamte mit einer auf das Gewehr montierten Taschenlampe blendet. Er schreit, und das lässt einen niederknien: "Get down! Now!" - "Runter! Jetzt!"

Es ist eine intensive Erfahrung, verschreckend und verstörend. Der Besucher befindet sich freilich nicht an der amerikanisch-mexikanischen Grenze, dort, wo US-Präsident Donald Trump so gerne eine Mauer errichten will und wo in den vergangenen sieben Jahren mehr als 6000 Menschen während der Flucht in ein vermeintlich besseres Leben umgekommen sind. Nein, der Besucher befindet sich in einem 400 Quadratmeter großen Raum im "Los Angeles County Museum of Art". "Carne y Arena (Virtually present, Physically invisible)" heißt die visionäre und virtuose Installation, für die Regisseur Alejandro Iñárritu und Kameramann Emmanuel Lubezki am Samstagabend von der "Academy of Motion Picture Arts and Sciences" einen Sonder-Oscar bekommen haben.

Der Besucher wartet erst in einem kalten Zimmer auf einer Bank, dann tritt er durch eine Tür und läuft barfuß durch den Raum. Man schnallt ihm einen Rucksack um und setzt ihm eine Virtual-Reality-Brille und Kopfhörer auf, dann geht es los. Es ist jetzt heiß und laut und grell, es riecht nach Sand, die nackten Füße berühren kleine Steine, man spürt Wind. Man sieht sich um und bemerkt, dass dieses sechseinhalb Minuten dauernde Erlebnis offensichtlich in der Wüste des US-Bundesstaates Arizona stattfindet. Hinter einem kommen Flüchtlinge an, sie sehen ausgemergelt aus, jemand hat sich ein Bein gebrochen.

Plötzlich knattert ein Helikopter, von links brettern Fahrzeuge herbei, Kinder weinen, und Beamte brüllen - und man bemerkt, dass man nicht Zuschauer dieser Geschichte ist, sondern Nebendarsteller. Selber ein Flüchtling. Man ist mittendrin, mit sämtlichen Sinnen, inklusive feuchter Hände, zitternder Beine und - wirklich - aufrichtiger Angst.

Was Iñárritu und Lubezki da erschaffen haben, das ist kein Film und auch keine Installation. Es ist ein Erlebnis und damit ein, wie sie in den USA bei technologischen Entwicklungen gerne sagen: Game Changer. Eine Innovation, die kreative Grenzen verschiebt, alles bisher Erlebte infrage stellt und völlig neue Spielregeln aufstellt.

Sie werden ja immer ganz wuschig an der amerikanischen Westküste, wenn jemand "Virtual Reality" sagt. Das scheint mal wieder das nächste große Ding im Silicon Valley und die dringend benötigte Innovation für die Filmindustrie zu sein. Die Branche entwickelt sich seit mehr als 100 Jahren immer weiter, doch in den letzten Jahren haben die Erfindungen aus dem Techniktal wie die Möglichkeit des Streamens in hoher Qualität und Immer-dabei-Abspielgeräte eher dafür gesorgt, dass Hollywood zum Superhelden-Fortsetzungs-Fließband geworden ist.

Was fehlte, das war diese eine Idee, bei der diese neue Technologie so verwendet wird, dass sie den Menschen den Unterkiefer nach unten zieht. Virtual Reality ist noch immer ein Versprechen, das bislang nicht wirklich eingehalten worden ist. Ja, es gab ein paar nette Experimente mit Computerspielen, Achterbahnen und der Übertragung von Sportereignissen - aber ganz ehrlich, und das war jahrelang eine ziemlich traurige Botschaft: Die Pornoindustrie, das Schmuddelkind der Filmbranche auf der nördlichen Seite der Hollywood Hills, war in den vergangenen drei Jahren deutlich kreativer und innovativer in virtuellen Welten unterwegs.

Hollywood brauchte ein Projekt, bei dem die Zuschauer nicht glauben können, was sie sehen - das ist "Carne y Arena".

"Ich habe versucht, mit dieser Technologie zu experimentieren, die Diktatur des Bildes auf der Leinwand zu brechen und dabei etwas über das menschliche Befinden zu erfahren", sagt Iñárritu. Das ist eine Untertreibung, so als würde man sagen, dass Iñárritu bloß ein brauchbarer Filmemacher sei. Das Problem beim Geschichtenerzählen mit Virtual Reality ist ja, dass sich der Rezipient frei bewegen darf und deshalb womöglich den entscheidenden Moment der Handlung verpasst. Deshalb funktionieren Achterbahnfahrten und, nun ja, auch Pornos, weil es hier nicht viel mehr zu erleben gibt als einen prominenten Handlungsstrang.

Es gelingt Iñárritu in "Carne y Arena", eine Geschichte zu erzählen und Empathie zu erzeugen, ohne den Rezipienten plump zu führen. Der darf zu Beginn etwa entweder zu der Frau mit dem gebrochenen Fuß, zu dem telefonierenden Menschenhändler oder zum weinenden Kind gehen. Wenn der Regisseur die Aufmerksamkeit des Besuchers will, dann stimuliert er diese mit besonderen Effekten; das kann ein Knattern des Hubschraubers sein, ein grelles Licht oder auch nur ein Windhauch am Hals.

Dafür sorgen zwei Mitarbeiter des Museums, die einen während dieser Realitäts-Erfahrung begleiten und nebenbei auch aufpassen, dass man nicht auf der Flucht gegen eine Wand läuft. Nach dem Virtual-Reality-Erlebnis wird der Besucher in einen Raum geführt, wo Flüchtlinge und Grenzbeamte auf kleinen Leinwänden ihre Geschichte erzählen.

Die Filmakademie hat in ihrer Geschichte erst 17 Sonder-Oscars vergeben, zuletzt 1996 an Pixar für "Toy Story". Seit einigen Jahren wird über eine Auszeichnung für den Performance-Capture-Visionär Andy Serkis ("Planet der Affen") spekuliert. Iñárritu hat 2015 ("Birdman") und 2016 ("The Revenant") jeweils den Oscar als bester Regisseur erhalten, nun hat er seine dritte Statue bekommen. Zu Recht. Die Installation "Carne y Arena" könnte tatsächlich ein Game Changer in der Unterhaltungsindustrie werden - weniger wegen der technischen Umsetzung als vielmehr, weil sie niemand vergessen kann, der sie erlebt hat.

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Quelle:
SZ vom 13.11.2017
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