Süddeutsche Zeitung

Virtuelle Bühne :Theater im Guckkästchen

Lesezeit: 3 min

Das Münchner Residenztheater zeigt Georg Büchners "Lenz" live als Zoom-Aufführung, ein Solo der Schauspielerin Lisa Stiegler. Die Zuschauer sind aktiv zugeschaltet, das erzeugt Verbindlichkeit - und Disziplin.

Von Christine Dössel

Endlich wieder eine Theaterpremiere! Es ist eine verbindliche, sehr exklusive Premiere, wer wäre da nicht ein wenig aufgeregt? Sie geht zu Hause auf dem Computer über die Bühne, via Zoom, dem neuerdings viel genutzten Internet-Tool für Videokonferenzen und virtuelle Meetings. Auch manche Theater greifen coronakrisenbedingt auf dieses Instrument und andere Online-Formate zurück, um während der Zwangsschließung präsent zu sein und die Stellung zu halten. Einladungen zu Streaming-Premieren hat es daher schon einige gegeben, die Münchner Kammerspiele sind zum Beispiel in ihrer digitalen "Kammer 4" sehr rege und einfallsreich zugange.

Bei "50 Mal Lenz - ein Versuch", einem Solo der Schauspielerin Lisa Stiegler vom Münchner Residenztheater, ist das Besondere, dass man sich nicht schnell mal dazuschalten, nebenher womöglich anderweitig betätigen und sich auch nicht unbemerkt wieder ausklinken kann. Sondern dass man sich für diese Live-Aufführung anmelden muss und dann einen persönlichen Termin und Link zugeschickt bekommt. Man betritt den virtuellen Theaterraum also wie ein Zoom-Meeting und findet sich in einem kleinen Kreis wieder: als einer, eine von lediglich fünf live zugeschalteten, aktiv teilnehmenden Zuschauern. Das erzeugt Verbindlichkeit, Nähe, Konzentration.

Der Schutz der Dunkelheit, den Theatergänger während der Vorstellung gewohnt sind, weicht in diesem Fall einem permanenten Sehen und Gesehenwerden im Guckkästchenformat. Heißt: Man hat die anderen wie auch sich selbst in den kleinen Videofenstern vor Augen, die Zoom-typisch in der "Galerieansicht" auf dem Bildschirm neben- und untereinander gereiht werden. Selbst in der "Sprecheransicht", in der das Bild der Schauspielerin groß geschaltet werden kann, sind am Rand noch Videofensterchen der Zuschauer zu sehen.

Die eingeschaltete Video- und Audiofunktion erzeugt eine ähnliche Disziplin des Zuschauens wie im "echten" Theater

Das Video ausschalten gilt nicht! Live dabei und sichtbar zu sein, ist Teil der Verabredung. In seiner Mail mit den Instruktionen für den Abend hält das Residenztheater die Teilnehmer sogar dazu an, während der Vorstellung sich selber nicht auf "stumm" zu schalten. Die Protagonistin wird uns Zuschauern hinterher erklären, warum: Weil sie uns flüstern, räuspern, husten, stören, schlicht: dasein hören, uns als "Anwesende erleben" will. Umgekehrt erzwingt die eingeschaltete Video- und Audiofunktion beim Zuschauer Ruhe, Konzentration und eine ähnliche, sagen wir mal, Disziplin des Zuschauens wie im "echten" Theater - wo man ja auch nicht nebenher spülen oder kochen oder auch nur quatschen kann.

Natürlich ist das alles gewöhnungsbedürftig. Da macht es schon Sinn, dass Stiegler, als sie in einer Tür mit dem Aufschriftzettel "LENZ" erscheint, sich erst einmal hinsetzt, in die Kamera schaut und drei Minuten lang schweigt, nichts anderes tuend, als uns, ihr Publikum, zu betrachten. Man selber braucht ja auch Zeit, sich einzustimmen und die anderen Personen samt ihrer Raum-Hintergründe wahr- und aufzunehmen: das kuschelnde Ehepaar auf seinem Sofa, die dunkelhaarige Frau mit dem Laufband im Zimmer, den Resi-Schauspieler Johannes Nussbaum, der sich Blumen an die Seite gestellt hat (er ist ganz privat als Zuschauer anwesend). Auch der Regisseur des Abends, Gernot Grünewald, ist - mit großen Kopfhörern über der Hipster-Mütze - aus Göttingen zugeschaltet.

Mit Grünewald arbeitete Lisa Stiegler, Jahrgang 1987, schon während ihres Studiums an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater zusammen. Georg Büchners Novelle "Lenz", inszeniert für jeweils nur 1 Zuschauer(in) in einem schlauchförmigen, engen Raum in der Hochschule, war ihr Abschlussprojekt. Jetzt haben sie das Solo neu aufbereitet - für fünf statt nur einen Zuschauer, damit in einer Zeit des Social Distancing wenigstens in dieser Zoom-Runde eine Form von Gemeinschaft entsteht. Was als kommunales Theatererlebnis wirklich gut funktioniert.

Gesendet wird aus der Garderobe 102 des Residenztheaters. Ein klinisch weißer Raum wie ein Krankenzimmer, den Stiegler in der Rolle des fiebrigen, leidenden, an sich und der Welt irre werdenden Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz vollumfänglich und hoch energetisch bespielt. Wie unter Strom knallt sie in T-Shirt und Jogginghose durch den Raum, keucht, haspelt, zappelt, wirft sich gegen die Wand, steigt aufs Fensterbrett, droht hinauszuspringen. Manchmal kommt sie ganz nah an die Kamera heran. Ein einsamer, zutiefst verzweifelter Mensch. "Und jetzt ist es mir so eng. So eng..."

Nach diesem stundenkurzen Intensiv(station)-Einblick in eine kranke Seele holt die Schauspielerin sich ein Getränk und stößt mit ihren Zuschauern an. Dabei entspinnt sich ein sehr grundsätzliches Gespräch über die Eigenheiten des Theaters, des schwer vermissten. Weil es so vieles kann, wofür es keinen Ersatz gibt.

Insgesamt fünfzig Mal wird Lisa Stiegler "Lenz" spielen (Anmeldung über die Residenztheater-Webseite). Aber so ein virtueller "Lenz" macht noch lange keinen Theatersommer.

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Quelle:
SZ vom 05.05.2020
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