Süddeutsche Zeitung

Tanz & Virtual Reality:Der Knüller

Das beste Tanzstück in der virtuellen Realität? Zweifellos "Le Bal de Paris" von Blanca Li. Eine fantastische Erfahrung.

Von Dorion Weickmann

Eine gute halbe Stunde lang gleiten zehn Spieler und Spielerinnen durch die logarithmengesteuerte Story, komplett künstliche Kulissen und Tanzbilder aller Art. Ihre Matrix wurde per Motion-Capturing aus den Bewegungen echter Tänzer gewonnen. Wer sich eingangs bebrillt, verkabelt, vernetzt hat, darf auf die Spielfläche. Ein acht mal acht Meter großes Quadrat lässt Blanca Li dafür in die Mitte der jeweiligen Location setzen, etwa jüngst auf der Biennale in Venedig, und mit Metallhandläufen umzäunen - reales Terrain für irreales Geschehen. Dafür, dass niemand verloren geht, sorgen kundige Begleiter: Zwei Tänzer aus Fleisch und Blut betätigen sich als Conférenciers, Tanzanimateure und IT-Sanitäter, wenn bei den Teilnehmern die Ausrüstung versagt. Blanca Lis Mischung aus Live- und Virtual-Reality-Erfahrung in dem partizipativen, immersiven und interaktiven Stück "Le Bal de Paris" toppt jedenfalls alles bislang Dagewesene.

2016 brachte Het Nationale Ballet mit "Night Fall" das erste Digitalformat auf den Markt, das VR-User mitten ins Corps de ballet hineinversetzte. Der nächste Meilenstein war Richard Siegals hyperästhetisches "Das Totale Tanztheater", 2019 zum Bauhaus-Jubiläum produziert. Zuletzt triggerte die Pandemie den Fortschritt, etwa in Gestalt der VR-Formate des Staatstheaters Augsburg, dessen Tanzdepartement gleich mehrere Auftritte in die Digitalsphäre verlegte. Wer zuschauen wollte, ließ sich die VR-Goggles per Post aus Augsburg kommen und klemmte sich zwecks Abwehr von Schwindelgefühlen einen Gymnastikball unter den Hintern. "Le Bal de Paris" vermeidet dank technischer Finesse nicht nur die gefürchtete VR-Vertigo, sondern lässt auch das optische Ruckel- und Zuckelstadium hinter sich.

Also Brille auf und rein ins Vergnügen, das in einem Showroom von Chanel mit der Wahl des eigenen Avatars beginnt (Chanel ist "exklusiver Partner" und steuert die Kostüme bei): Hosenanzug oder Ballrobe, Smoking oder kleines Schwarzes, darüber Katzen-, Hirsch- oder Hundekopf - einmal angetippt, schon ist die Verwandlung perfekt. Weiter geht's durch eine mit hundert Harfenistinnen bestückte Spiegelgalerie auf die Empore eines festlichen, walzerbeschwingten Ballsaals. Flankiert wird das Parkett von frei schwingenden Treppen, auf denen sich Paare bewegen, deren kinetische Schnörkelei freilich eher an Marika-Rökk-Filme als an MGM-Musicals erinnert. Die Besucher in VR-Montur können hier nicht nur Kopf und Körper frei bewegen, sondern selbst das Tanzbein schwingen und mit anderen interagieren (Musik: Tao Gutierrez). Es wird auch eine - reichlich hanebüchene - Liebesgeschichte erzählt. Diese liefert den Anlass zur Weiterreise per Schiff, nächste Destination: eine Gartenfete. Akrobaten und sportive Tangotänzer turnen in einer magischen Parklandschaft herum, bis der finale Akt im Ambiente eines Pariser Nachtclubs mit Cancan und flottem Zirkus-Chichi aufwartet.

Sieht so die Zukunft der Tanzkunst aus? Keine Sorge. Dem Theater wird Virtual Reality nicht das Wasser abgraben, obwohl "Le Bal de Paris" ein glamouröses Feuerwerk zündet. Nicht umsonst haben zahlreiche Programmierer und Coder daran herumgetüftelt und dafür den Preis für die "beste VR-Erfahrung" bei den 78. Filmfestspielen in Venedig 2021 bekommen. Noch ist Blanca Lis charmante Einladung zum Tanz auf Tour durch Europa, deutsche Festivals haben den Knüller bislang verschlafen. Sie sollten nachbuchen.

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