Es wurden in den letzten Jahren eine Menge sinnloser Kraftanstrengungen unternommen, den Begriff "Immersion" auch im Bereich der Kultur zu etablieren. An vielen Fronten bemühten sich Kuratoren und Theoretiker, zeitgenössische Kunstwahrnehmung als "immersiv" zu erklären - allen voran die Berliner Festspiele mit einem Langzeitprojekt an Ausstellungen und Kongressen im Gropius Bau. Filme, Performances, Lichtinstallationen, Duftorgel, Netflix und Mitmachtheater erscheinen gleich unter dem neuen Label. Wie ja auch die Marketing-Experten von Zoos, Immobilienentwicklern und Voodoo-Priestern sich längst des neuen Etiketts für alte Erscheinungen bedienen, um irgendwie besonders zu wirken.
Es erinnert einen daher inzwischen an die Achtziger und ihren Begriff von der "Postmoderne". Er wurde damals ja auch für alles verwendet, was sich diffus nach neuer Zeit anfühlte. Und tatsächlich ist das Fremdwort "Immersion", das eigentlich nur "Eintauchen" bedeutet, nun die schwammige Worthülse, die sich auf alles verwenden lässt, was früher "Event" hieß.
Die Suche nach echten strukturellen Gemeinsamkeiten von angeblich immersiven Phänomenen muss sich meist damit bescheiden, dass "Immersion" halt eine Form der Fantasieanregung sei - die aber bei der Harry-Potter-Lektüre genauso existiert wie vor der großen Scheibe im Aquarium. Klare Gattungsunterschiede fehlen, was die Modevokabel so obsolet und unbefriedigend macht.
Das echte Marionettengefühl gibt es nur unter der Datenbrille
Mit vielleicht einer Ausnahme. Im Bereich der Virtual-Reality-Anwendungen (VR) ist Immersion ein erlebbares Ganzkörpergefühl. Anders als bei einer Performance, vor einem Kunstwerk, bei der Schmökerei oder selbst im Horrorfilm sind Distanzlosigkeit und Kontrollverlust unter der Datenbrille hier real. Wo Sicht- und Hörkontakt zur materiellen Umwelt blockiert und durch vorfabrizierte Eindrücke ersetzt sind, ist das "Eintauchen", also die Erfahrung von Machtlosigkeit gegenüber dem Medium, bestürzend konkret. Wenn ein "Geist" in den eigenen Körper eindringt, schreckt man zurück. Erhebt einen die programmierte Idee vom Boden oder steht man im 30. Stock überm Abgrund, macht sich Schwindel bemerkbar. Und für Begegnungen mit fetten Spinnen ist der VR-Gast besser nicht arachnophobisch.
Hat man sich im allgemeinen "Immersions"-Diskurs schon immer gefragt, was an einer Erfahrung des totalen Ausgeliefertseins und der erzwungenen Distanzlosigkeit intellektuell erstrebenswert sein soll, ist es im VR-Bereich die Voraussetzung aller Kreativität und Wahrnehmung. Das echte Marionettengefühl gibt es nur unter der Datenbrille. Und das mag dann aber auch der Grund ihrer partiellen Erfolglosigkeit sein, jedenfalls in der Kunst. Denn VR ist ja als Medium viel älter als die CD und das Smartphone, und trotzdem noch immer nicht durchgesetzt.
Erfunden in den Sechzigern und zur ersten bescheidenen Reife bereits in den Achtzigern gebracht durch Jaron Lanier im Silicon Valley, sieht man 2019 auf einem Themen-Festival wie VRHAM in Hamburg noch immer zahlreiche Besucher, die mit gehörigem Respekt vor dem Unbekannten die Datenbrille erstmals erklärt bekommen müssen.
VRHAM - die Abkürzung für Virtual Reality Hamburg - lockt die neugierig Ängstlichen mit dem Versprechen, die Möglichkeiten einer Mensch-Maschine-Verschmelzung auszuloten. Jetzt im zweiten Jahr im Kreativquartier der Hafen-City an der Oberhafenbrücke veranstaltet, reicht das umfangreiche Programm der "Experiences", wie der Profi sagt, von Terror und Tanz zum Besuch bei Gott oder dem Bad in Monets Seerosenteich, von halbgaren Primatenexperimenten bis zum Überwältigungskitsch mit der Botschaft: "Die Welt ist schön, lasst sie uns retten."
Man teleportiert sich in "Home After War" von Gayatri Parameswaran durch ein Haus in Falludscha mit einem väterlichen Dschinn, der den Besucher in eine Sprengfalle führt, oder erlebt in Ricarda Salehs "Paris Terror" mit Überlebenden des Anschlags auf den jüdischen Supermarkt 2015 die Ungewissheit im Kühlraum mit. Man darf als Engel durch die süßlichen Bildlandschaften des litauischen Visionärs Mikalojus Konstantinas Čiurlionis aufsteigen ins ewige Licht oder schwebend in den fantastischen Landschaften von Jakob Kudsk Steensen an einem Requiem für den hawaiianischen Kaua'i õ'õ-Vogel teilhaben, der leider ausgestorben ist. Ebenso wie die vielen Sprachen der Welt, die Lena Herzog von einem schwebenden Lichtglobus noch einmal im Chor erschallen lässt.
Interaktive Kunstpädagogik mit Munchs Bild "Der Schrei" gelingt wegen technischer Unausgereiftheit leider nicht jedem, und in einer "Romeo und Julia"-Inszenierung in einem virtuellen Museum wird Shakespeares Stück in zufällige Szenen von schemenhafter Präsenz zersplittert. Umso interaktiver die Vorführungen werden, umso mehr fühlt man sich doch noch in den Kinderschuhen einer Technik, die mit 60 gerade erst Laufen lernt - und das gilt keineswegs nur für die Auswahl dieses ambitionierten Festivals, sondern auch für fast alle Erfahrungen mit den vielen anderen Ausstellungen zur VR-Kunst, die es in den letzten Jahren gab.
Natürlich reicht die praktische Vorstellungskraft, um die technischen Entwicklungen vorauszusehen, die derartige Frustrationen ausmerzen werden. Viel drängender stellt sich jedoch die Frage nach Inhalt und Sinn bei dieser immersiven Taufe im Becken der Illusionen. Gerade dort, wo sie performativ werden möchte.
Denn wozu braucht es einen Zwitter zwischen Kino und Theater, um "Romeo und Julia" anzusehen, wenn er nur die Nachteile beider Medien vereint? Man vermisst die körperliche Präsenz echter Darstellung ebenso wie die brillante Illusion des Films.
Gleiches gilt für die Versuche dokumentarischer Rekonstruktion politischer Vorkommnisse im Modus des Videospiels. Sowohl partizipative Theaterabende - etwa die "Situation Rooms" von Rimini Protokoll zum Thema Waffenhandel - als auch fundierte Filme liefern weit mehr verwertbare Erfahrung und ernsthafte Diskussionsansätze als kurze Raumillusionen, bei denen der Hauptteil der aufwendigen Arbeit auf Fragen des Designs verwandt wurde. Vielleicht kann man sagen, dass das größte Problem der neuen VR-Kunst ihr mangelnder Fokus ist. Sie ist überall dort stark, wo es um Oberflächen geht, aber um den Preis flachen Inhalts.
Marina Abramović meint, immersive Welten würden die Menschen zu Empathie erziehen
Auch die gehypte britische VR-Galerie "Acute", die Großkünstler wie Jeff Koons, Olafur Eliasson, Nathalie Djurberg, Christo & Jeanne-Claude oder Marina Abramović zu Werken in dem neuen Medium verhilft, ist bis jetzt ein Erweckungserlebnis schuldig geblieben. Die Mehrzahl dieser großen Kunstmarken hat einfach bestehende Arbeiten noch mal mit der 360-Grad-Kamera aufgenommen.
Marina Abramović, die ein Videogame zum Klimawandel entwickelt hat, erklärt darin in ihrer priesterlichen Tonart, immersive Welten würden die Menschen unter den Datenbrillen zur Empathie erziehen, während sie auf einem Floß der Medusa im nächtlichen Gewitterregen stehen.
Stellt sich die Frage, warum im Spielemarkt, wo VR längst seinen Zweck erfüllt, vor allem Ballerspiele populär sind. Weil Immersion die Empathie befördert? Oder weil es - wie Social Media - die vernünftigen Hemmschwellen abbaut, andere Menschen nicht zu beleidigen, an den Pranger zu stellen oder zu töten? Bis jetzt wirken die besten VR-Arbeiten in der Kunst jedenfalls höchstens wie ein LSD-Trip ohne Chemie. Vielleicht führt das wie in der Gründerzeit dieses Mediums in den Sechzigern zu einer Massenbewegung "Make Love not War". Vielleicht aber ist VR auch nur ein Fantasie-Placebo wie die Postmoderne, ein Ding zwischen Stühlen, das bei allem Schweben irgendwann doch sehr langweilig wird. In weiteren 60 Jahren wissen wir mehr.
VRHAM-Festival, bis 15. Juni, Hamburg Oberhafenquartier, https://www.vrham.de/