Französische Literatur:Das Friedensangebot der Tochter

Writer Violaine Huisman at her home in Brooklyn, New York

Wie erlebt ein Kind die Depression einer Bezugsperson? Violaine Huisman hat auch darüber ihren Debütroman geschrieben.

(Foto: Pascal Perich)
  • Violaine Huismann erzählt in ihrem Debütroman mit biografischen Elementen vom Selbstmord ihrer Mutter.
  • "Die Entflohene" ist ein großherziges Porträt einer Tochter, die nicht mit ihrer Mutter nicht abrechnet sondern - und darin liegt eine besondere Stärke des Textes - ihr verzeiht.

Von Alex Rühle

Es beginnt am Tag des Mauerfalls. Violaine, ein Mädchen von zehn Jahren, sieht im französischen Fernsehen "Trauben von laut jubelnden Männern und Frauen, im Hintergrund Steinhaufen, Geröll, Staubwolken". Ohne die politischen Hintergründe zu verstehen, ist ihr doch klar, dass da gerade etwas Großes, Irreversibles passiert. Gleichzeitig glaubt sie in den Geschichtstrümmern eine Spur ihrer Mutter Catherine zu erkennen, "ihr verherrlichtes Bild inmitten der Ruinen".

Die Mutter, für die sie "blendend schwärmerische Bewunderung empfindet", ist kurz zuvor von einem Tag auf den anderen verschwunden, Violaine und ihre zwei Jahre ältere Schwester fühlen sich tatsächlich mutterseelenallein. Die Erwachsenen um sie herum erklären ihnen mantraartig, Catherine sei manisch-depressiv und habe deshalb eingeliefert werden müssen. Aber was fängt man als Zehnjährige mit klinischer Terminologie an?

Gut, die Mutter liebte es, splitternackt durch die Wohnung zu spazieren, trat ab und zu Türen ein und fuhr mit dem Auto über Fußwege, wenn es ihr nicht schnell genug ging. Aber spricht das nicht auch für einen exzentrischen Sinn für Freiheit? Gut, die Mutter lag ab und zu bewusstlos im Flur rum, aber die beiden Töchter hatten früh gelernt, wie man jemanden reanimiert. Gut, die Mutter hat regelmäßig diese Schimpftiraden vom Stapel gelassen, nicht enden wollende Vorwurfsarien, wie kann man nur so undankbar sein, du armselige kleine Kröte, ihr kotzt mich so an mit euren saudummen Problemen und hör endlich auf, so erbärmlich rumzuheulen. Natürlich schlug sie dann auch mal zu oder zog eines der Mädchen an den Haaren durch die Pariser Wohnung. Aber Violaine und ihre Schwester hatten doch eine Formel, mit der sie ihre Mutter aus diesen Litaneien herausholen konnten: "Liebe Maman, die ich wie verrückt liebhabe solange ich lebe - und für alle Ewigkeit der Erde". Wenn dieser Satz irgendwie durch das mütterliche Geschimpfe drang, dann "ging das Gewitter vorbei mit einem Streicheln über den Rücken, einem schmatzenden Kuss auf den Hals, einem ganzen Regen von Küssen, Küssen und Küssen und Küssen".

Die, die da spricht, ist auch heute noch immer symbiotisch gefesselt an diejenige, über die sie spricht. Als Leser erwartet man, dass es im Laufe der Erzählung einen heftigen Stimm-Bruch geben wird, dass also später, wenn sich diese Stimme aus dem Käfig der Kindheit befreit haben wird, die große Abrechnung kommt. Mein grauenhaftes Leben mit einem manisch-depressiven Drachen. Aber nichts dergleichen geschieht, kein Vorwurf, keine Abgrenzung. Und vielleicht ist genau das die größte Stärke dieses Buches.

Das Buch ist im Grunde der Versuch, den Suizid der Mutter zu verstehen

Violaine Huisman, Jahrgang 1979, lebt seit 20 Jahren in New York. Sie organisiert dort Literatur- und Musikfestivals, arbeitet als Lektorin und übersetzt aus dem Englischen ins Französische. Man fragt sich beim Lesen ihres autobiografischen Debüts über ihre Mutter schnell, ob die räumliche Distanz zu Paris auch eine Art Notwehr war, schließlich ist sie sofort nach dem Abitur auf die andere Seite des Atlantiks gezogen, so als müsste sie sich in Sicherheit bringen. Nun schreibt sie aus doppelter Distanz: Zehn Jahre ist es mittlerweile her, dass ihre Mutter sich 2009 umgebracht hat und ihren erwachsenen Töchtern einen Brief hinterließ: "Ich habe genug, ich habe genug gegeben." Aber auch die 30-jährige Violaine, die am Endes des Buchs vom Tod ihrer Mutter erfährt, ist noch so konsterniert und untröstlich, wie es ihr kindliches Alter Ego zu Beginn des Textes gewesen ist. "Wie konnte sie sagen, dass sie genug gegeben hatte?" "Die Entflohene" ist im Grunde der Versuch, diesen Selbstmord zu verstehen.

Drei große Kapitel, wie ein Triptychon. Im ersten werden aus Sicht des Kindes die frühen Jahre erzählt. Die Streitereien der Eltern, die Liebhaber, die nackt im Bad schlafen, wildes gemeinsames Spielen und Tanzen mitten in der Nacht - alles ist vollkommen bizarr und doch normal, schließlich gibt es keine andere Kindheit, mit der man das eigene Erleben abgleichen könnte. Im zweiten Teil skizziert Huisman aus der Außenperspektive die Biografie dieser Frauenfigur namens Catherine Cremnitz, die auch aus einem tragischen Truffautfilm entstammen könnte.

Eine beglückende Kindheit, auf ihre Art: das will die Autorin zeigen

Eine kalte, eifersüchtige Mutter. Traumatische Jahre in einem Krankenhaus der Nachkriegszeit, als Kleinkind wird Catherine im Hôpital Necker abgegeben, die Eltern kommen sie nie besuchen. Sie heiratet früh, eröffnet eine Tanzschule, lernt dann einen mondänen Pariser kennen, erfolgreicher Geschäfts- und exzessiver Lebemann, ständig Affären, Geld ist dafür da, zum Fenster rausgeworfen zu werden. Dass er Jude ist und den Zweiten Weltkrieg unter einem Decknamen überlebt, kommt im Text eher en passant raus. Das chaotische Paar, das anfangs "in dem immensen Schlamassel ihrer Liebe einen Riesenspaß hatte", bekommt zwei Töchter, und Catherine erfährt, wie das ist, wenn einen die Pariser Bourgeoisie nie akzeptiert, weil man ja aus einfachen Verhältnissen stammt, den literarischen Kanon nicht kennt, den Subjonctif II nicht beherrscht. Und immer diese Zusammenbrüche, Bulimie, Alkohol, Tabletten, die Frau ist eine Schande für die Familie. Huisman beschreibt diesen Distinktionsterror und den wilden biografischen Schlingerkurs der Mutter mit Flaubert'scher Nüchternheit, die fünf Jahre in einen kühlen Halbsatz packen, um dann einen einzelnen Moment wie in Zeitlupenzoom zu dehnen.

Thomas Melle hat vor drei Jahren sehr eindrücklich aus der Innenperspektive beschrieben, was es heißt, manisch-depressiv zu sein. In "Die Welt im Rücken" schrieb er, vereinsamt, verschuldet, bis auf den Grund erschöpft, über die lebenszerstörerische Wirkung seiner psychischen Erkrankung. Er wollte absichtlich keinen Roman schreiben, keine fiktionalen Mäntel überwerfen, sondern in Textform existenziellen Kassensturz machen, zum einen, um sich selbst und anderen zu zeigen, was da immer wieder an irren Kräften in ihm wütet. Zum anderen ging es um eine Art Rückeroberung der eigenen Geschichte, in der Hoffnung, mit diesem radikal offenen Text den Dämon, der sich immer wieder in sein Schreiben drängte, zu bannen. Er betonte in einem Interview, sein Buch sei "Literatur, doch alles ist wahr, nichts erfunden".

"Man muss den eigenen Eltern verzeihen, wenn man sie möglichst genau sehen will"

Violaine Huisman beschreibt diese Krankheit von außen - soweit man als Tochter Distanz gewinnen kann, schließlich ist sie inmitten der mütterlichen Wahrnehmungsverzerrungen und Ausbrüche aufgewachsen. Es geht ihr aber um etwas diametral anderes als Melle. Sie will die Mutter im Nachhinein aus dem definitorischen Korsett ihrer psychiatrischen Diagnose befreien. Ja, Catherine war manisch-depressiv, und wenn wir schon bei klinischem Vokabular sind, war sie sicher auch hysterisch, klepto- und mythomanisch, aber ist das nicht verständlich bei einem derartigen Leben? War sie nicht trotzdem oder gerade deshalb eine außergewöhnlich gute Mutter? Huisman verteidigt Catherines Extravaganz gegen die Krankheit, interpretiert dieses exzentrische Leben als Auflehnung und Wagemut und leitet ihr Scheitern, ihr elendes, einsames Ende nicht aus der Krankheit her, sondern aus all den Lebenszumutungen, denen die Mutter zu trotzen versuchte. "Medea ist nicht verrückt", heißt es einmal, "sie ist verletzt, gedemütigt, verraten."

Man könnte das Ganze freilich auch als ästhetische Symbiose über den Tod hinaus lesen: Catherine wollte ihr Leben im Erzählen in den Griff bekommen, was ihr, wie so ziemlich alles, misslang, sie verlor sich in besessenem Gekritzel, "machte sich eine neue Haut aus ihren zwanghaften Rezitativen". Im Grunde hat die Tochter diese Aufgabe der biografischen Neuerfindung stellvertretend für sie übernommen. Wobei sie ihr Buch ausdrücklich als "Roman" bezeichnet, dessen dritter Teil den Tod, die Beerdigung und die unfassbare Lücke beschreibt, die ihr Fehlen bei den erwachsenen Töchtern in die Kinderseele reißt.

Vor allem aber will sie zeigen, dass die eigene Kindheit und das Leben mit dieser Mutter auf seine Art beglückend und reich war. Huisman sagte in einem Interview, ihr Buch sei "eine Art Friedensangebot: Man muss den eigenen Eltern verzeihen, wenn man sie möglichst genau sehen will".

Fragt sich, was hier "genau" heißen soll. Huisman baut in ihren Text mehrmals Subjektivitätswarnungen ein. "Die biografischen Elemente, die die Geschichte ersetzten, brauchten nicht wahr zu sein, um wirklich gewesen zu sein. Die Wahrheit eines Lebens ist immer nur Fantasie, je nachdem, wie man sie entwirft." Meine Mutter war Mythomanin - aber sind wir das nicht alle?

Violaine Huisman wollte also bestimmt kein fotorealistisches Porträt ihrer Mutter zeigen. Aber wenn ihre Formulierung vom genauen Sehen heißt, dass man ein großherziges Porträt einer charismatischen Untergeherin liest, dann ist ihr das unbedingt gelungen.

Violaine Huisman: Die Entflohene. Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019. 256 Seiten, 22 Euro.

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