Die Dinge liegen komplex - so viel ist schon mal sicher. Schlicht oder offensichtlich ist das wenigste, am allerwenigsten das Geschehen in Staat und Wirtschaft - ganz zu schweigen von "der Komplexität der Gesellschaft". Kaum eine Stellungnahme zum Zeitgeschehen kommt ohne diese Formel aus. Mit ihr versichert man einerseits, sich die Dinge nicht zu einfach zu machen, skeptisch und sorgfältig einen weitumspannenden Blick zu versuchen (ganz egal, ob das auch wirklich gelingt). Andererseits bekennt man sich damit zu einer Beschreibungssprache, die - so die These von Vincent August in seinem Buch "Technologisches Regieren" - fast unbemerkt zum dominanten "Muster der Weltwahrnehmung" aufgestiegen ist: das Netzwerk-Denken.
"Netzwerk-Denken" - damit bezeichnet der Politiktheoretiker und Soziologe August in seiner (von Herfried Münkler und Hartmut Rosa) betreuten Dissertationsschrift das "ideenpolitische Projekt", die veralteten Vorstellungen von Souveränität, Hierarchie und Steuerung durch solche des Systems, also durch Zirkularität und Selbststeuerung zu ersetzen. Hierher gehört auch das beliebte "Standardargument", wonach "heute soziale Zusammenhänge als hochkomplex, kaum zu durchblicken und im Grunde nicht steuerbar interpretiert werden".
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Im Laufe der Siebziger geriet das alte Modell staatlicher Souveränität in eine tiefe Krise
Glücklicherweise begnügt sich August, anders als viele prominentere Zeitdiagnostiker, aber nicht damit, den Aufstieg des titelgebenden "technologischen Regierens" festzustellen und dann mit der eigenen Kritik zu konfrontieren. Im Gegenteil: Die durchaus nicht kurz geratene Studie beschäftigt sich zu einem großen Teil damit, die politisch-soziale Situation zu erhellen, die diesen Aufstieg möglich gemacht hat. Das heißt: zu fragen, "wie es kam", dass "die politischen und politikwissenschaftlichen Akteure ihre westlichen Gesellschaften im Vokabular des Netzwerkes beschreiben".
So folgt man dem Autor zunächst mitten in die Nachkriegszeit. Dort habe sich, entgegen aller Wahrscheinlichkeit und trotz des eben erst verheerend gescheiterten totalitären Terrors, erneut das Paradigma der Souveränität durchgesetzt, das den Weltkriegen eine "optimistische Regierungskonzeption abtrotzte". "Souveränität" stand hier für die Wiedergewinnung eines Zentrums, "von dem aus Modernisierung organisiert" und eine Antwort auf das "Auseinanderfallen von Individuum und Gesellschaft" gegeben werden konnte, das in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zum Zusammenbruch der innerstaatlichen und völkerrechtlichen Ordnung führte. Nicht der Staat und sein Machtanspruch galten als Problem, sondern sein gleichzeitiger Mangel an sittlicher Bindung und Durchsetzungsvermögen.
"Nach allem, was man erlebt hatte, musste man erkennen, dass der Mensch den anvisierten Fortschritt verfehlen konnte. Man musste die Kontingenz der Geschichte anerkennen" - und ihr institutionell schlagkräftig begegnen. Wie von selbst ging der Anspruch an die staatliche Souveränität, die Modernisierung kontrollieren zu können, mit umfangreichen Steuerungsaufgaben einher. Der Keynesianismus bot Mittel und Wege, Konjunkturkrisen auszugleichen, Wirtschaftswachstum anzutreiben und Vollbeschäftigung bei steigendem Lebensstandard zu garantieren.
Doch im Laufe der Siebziger geriet dieses Modell in eine tiefe Krise: Kulturell schien der Wohlfahrtsstaat bestimmte Lebensmodelle festzuschreiben und sich unter dem Verweis auf Sachzwänge individueller Partizipation eher in den Weg zu stellen. Ökonomisch schossen - unter dem Eindruck der Ölkrise - gleichzeitig die Inflations- und Arbeitslosenraten in die Höhe, sodass dem ganzen System immer häufiger eine "Überforderung" attestiert wurde, die schließlich auf den "Kollaps" hinauslaufe. Von progressiv bis konservativ, von Jürgen Habermas bis Wilhelm Hennis, war man sich einig, in einem "unregierbaren" Zustand festzustecken.
Das Netzwerk-Denken verlangte, die "veraltete Rationalität der Moderne" aufzugeben
In der mittlerweile üblich gewordenen und historisch gut gesicherten Erzählung würde an dieser Stelle das Wort "Neoliberalismus" fallen - und es fällt zunächst auch bei August: Das Marktvokabular bot seit den späten Siebzigern eine Antwort auf die Krise des Souveränitätsparadigmas, indem es - nach links - endlich die Freiheit der Individuen versprach, sich auszuleben und zu konsumieren was sie möchten, und - nach rechts - die Wiedergewinnung der Kontrolle über vor allem gewerkschaftliche Interessengruppen versicherte. Nötig war nur, dass sich Staat und Gesellschaft der Logik der (Finanz-)Märkte unterwarfen und anfingen, sich selbst in ökonomischen Begriffen zu denken.
Doch das ist nur die eine Seite der Krisengeschichte der Siebziger. Auf der anderen Seite stehen - so die zentrale These von Vincent August - Intellektuelle wie Luhmann und Foucault, die sich mit dem "Pathos des Neubeginns und einer unverbrauchten Logik" ausgiebig bei der Kybernetik zweiter Ordnung bedienen: jenem paradoxerweise aus dem Steuerungsdenken entwickeltem interdisziplinären Projekt, das die Informationswissenschaft ebenso inspirierte wie Biologie und Sozialwissenschaften.
Statt ein ökonomisiertes Verständnis von Politik verlangte dieses "Netzwerk-Denken", jene "veraltete Rationalität der Moderne" aufzugeben, von der das in die Krise geratene Souveränitätsparadigma ebenso durchdrungen war wie der vermeintliche Schlüssel zur Lösung, der Neoliberalismus. Beide Ansätze glaubten aus den Augen Foucaults und Luhmanns fatalerweise "an ein kausales Steuerungsdenken", das auf einer "starren Subjekt-Objekt-Unterscheidung beruhe, und das hielt man in der Kybernetik für völlig 'unterkomplex'. Im Gegenzug entwickelten sie ein neues Modell, das Regieren als zirkuläre Selbstregulation dachte und damit hierarchischen Ordnungsmustern prinzipiell kritisch gegenüberstand". Foucaults Machtkreisläufe gehören, folgt man der Argumentation des Buches, zu derselben Theoriesprache wie Luhmanns autopoietische Systeme - und beide entwickeln ihre Antwort auch in exakt derselben Krisensituation.
Doch leider endet die geschichtliche Rekonstruktion an dieser Stelle. Der Leser kann zwar erahnen, dass hier eine immer noch kräftig sprudelnde Quelle jener System-, Netzwerk- und Komplexitätsbegriffe verborgen liegt, die auch heute das öffentliche Gespräch prägen, doch ob, wie und inwieweit sich ihr Wasser über das Universitätssystem hinaus vergossen hat und noch immer vergießt, bleibt unaufgeklärt. Und das, wo doch gerade hier interessante Fragen zu beantworten wären: Wenn sich, politökonomisch, das neoliberale Ordnungsverständnis seit den Achtzigern durchgesetzt hat, und wenn, andererseits, das frische Netzwerkparadigma mit diesem keineswegs identisch ist, warum drängt sich die Identifizierung beider dann heute so stark auf? Warum hört man hinter der Warnung vor dem Eingriff in das komplexe Informationsgefüge der Netzwerkgesellschaft allzu oft das Zittern vor der politischen Steuerung von Märkten?
Vincent August deutet in seinem kurzen Schlusskapitel selbst "Überschneidungen" und Überformungen an, die zwischen den beiden Paradigmen möglich sind. Zumal der "Begriffsapparat des Netzwerk-Denkens" zwar hervorragend geeignet ist, "um Paradoxien zu erfassen, um Alternativen zu produzieren und Autonomie gegen Normierungen zu verteidigen", aber "eine offene Flanke im Bereich kollektiver Selbstverständigung und kollektiven Handelns" bietet. Der Sinn der Aufforderung zu souveränem, gemeinschaftlichen Handeln verflüssige sich in der Vorstellung allgemeiner, dezentraler Vernetzung.
Doch wäre nicht gerade Ersteres vonnöten, wenn - ökologisch - die Zeit drängt und - politisch, man blicke über den Atlantik in die USA - selbst jahrhundertealte republikanische Systeme ins Wanken geraten? Womöglich steht, so die scharfsinnige Schlussfolgerung des Buches, das technologische Regierungsdenken deswegen sogar "vor einem Paradox: Gerade die differenztheoretisch begründete Verweigerung von Gemeinwohl und Gemeinsinn könnte zur Gefahr für die differenzierte Gesellschaft werden". Das wäre dann immerhin ein wirklich komplexes Problem. Wer darauf hofft, es zu entwirren, kann mit diesem Buch auf jeden Fall einen ersten Schritt wagen.