Zu den vielen Personen, die László Krasznahorkai am Donnerstag zum Literaturnobelpreis gratulierten, gehörte Viktor Orbán. Der ungarische Ministerpräsident schrieb auf X, dass der Schriftsteller „unserer Nation Stolz“ bringe. Das ist umso bemerkenswerter, als ein großer Teil des Werks von László Krasznahorkai von Autoritarismus und dem Gift der Propaganda handelt. In seinem Opus Magnum „Melancholie des Widerstands“ geht es etwa um eine kleine südungarische Stadt, in der apokalyptische Zustände herrschen. Nichts funktioniert, auf den Straßen ist es dunkel, die Leute haben Angst oder verbreiten Angst. Und irgendwann kommt ein Zirkus samt einem Herzog mit drei Augen, um die Macht an sich zu reißen.
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Der Roman wurde 1989 als Allegorie auf die Umbrüche in Osteuropa geschrieben, er lässt sich aber problemlos auch ins Heute übertragen. Oder wie es der österreichische Literaturwissenschaftler Klaus Kastberger, der sich seit Langem mit Krasznahorkai beschäftigt (und den Literaturnobelpreis für den Schriftsteller bereits Anfang der Woche prophezeite), einmal ausdrückte: „Ob László Krasznahorkai in seinen Werken auch Viktor Orbán, den ungarischen Staatschef, meint? Klar, denn wie könnte ein literarisches Werk, das von einem Staat, in dem Orbán das Sagen hat, anhaltend denunziert wird, Orbán und alles, was mit Orbán zusammenhängt, nicht meinen?“
Der Schriftsteller hat sich schon vor langer Zeit von Ungarn abgewandt, Kastberger sagt sogar, er habe mit dem Land „abgeschlossen“. Krasznahorkai hat nach der Wende viele Jahre im Ausland verbracht, in Asien und in New York, wo er eine Zeit lang bei Allen Ginsberg lebte, oder an seinem Zweitwohnsitz in Berlin. Als ihn eine Vertreterin der Schwedischen Akademie anrief, um ihm die gute Nachricht zu überbringen, erreichte sie ihn in Frankfurt. Krasznahorkai sagte in dem Gespräch, er wünsche sich, dass jeder Mensch die Möglichkeit habe, durch Literatur seine Fantasie anregen zu lassen. Lesen gebe „uns mehr Kraft, um diese sehr, sehr schwierige Zeit auf der Welt zu überleben“. Und er erzählte, wie er den Preis feiern werde: „Ich werde auf das sogenannte Anmeldeamt gehen.“ Er habe seinen Zweitwohnsitz verändert und werde dort seine neue Adresse in Deutschland angeben.
Krasznahorkai selbst wird von vielen als „liberaler Besserwisser“ oder „Vaterlandsverräter“ verunglimpft
Vom offiziellen Ungarn werden seine Bücher nicht rezipiert und schon gar nicht als Pflichtlektüre an Schulen unterrichtet. Krasznahorkai selbst werde von vielen als „liberaler Besserwisser“ oder „Vaterlandsverräter“ verunglimpft, wie der ungarische Schriftsteller Ákos Győrffy in der regierungsnahen Wochenzeitung Mandiner festhielt. Das heißt aber nicht, dass das offizielle Ungarn nicht einiges unternehmen könnte, um den Literaturnobelpreisträger für sich zu vereinnahmen.

László Krasznahorkai: "Herscht 07769":Kartoffeln mit Quarks
Der große Weltbürger László Krasznahorkai wählt das kleine Thüringen als Schauplatz einer transzendenten Verirrung. Es geht um Teilchenphysik, stumpfes Nazitum - und die Kantaten von Johann Sebastian Bach. Nicht nur der fragt sich: "Wo soll ich fliehen hin"?
Dies ließ sich bereits beim letzten ungarischen Nobelpreisträger Imre Kertész beobachten. Auch Kertész’ Bücher gehören nicht unmittelbar zum ungarischen Literaturkanon. Sein „Roman eines Schicksallosen“, in dem es um sein Überleben während der Shoah geht, wurde 2020 als Pflichtlektüre aus dem ungarischen Lehrplan gestrichen, lesen müssen ungarische Schülerinnen und Schüler nun unter anderem nationalistische Autoren wie Ferenc Herczeg, József Nyírő oder Albert Wass. Kertész selbst lebte lange in Berlin, in seinen Tagebuchaufzeichnungen schrieb er über „ungarische Nazis“, die ihn schmähten. Und er hatte Jahre vor seinem Tod seinen Nachlass dem Archiv der Berliner Akademie der Künste verkauft.
Das hinderte Orbán nicht daran, 2016 höchstpersönlich an der Beerdigung von Kertész teilzunehmen, dessen Erfolg er als eine Bestätigung nationaler Bedeutung sah. Und es wurde einiges unternommen, damit die Rechte am Kertész-Nachlass an eine regierungsnahe Stiftung übergehen. Dort sind sie nach einem Prozess in Budapest 2019 inzwischen. Ein eigenes Budapester Imre-Kertész-Institut wurde 2020 von Viktor Orbán eröffnet. In seiner Eröffnungsrede repatriierte Orbán den Nobelpreisträger mit den Worten, dass Budapest dessen Heimatstadt gewesen sei und sein Erbe daher in Budapest und nicht in Berlin sein solle. Und er legte ihm seine eigenen Gedanken in den Mund. Kertész habe sich, so behauptete Orbán, gegen eine multikulturelle Gesellschaft ausgesprochen und gesagt, dass „importierte Lösungen nicht funktionieren, egal ob es sich um Ideologie oder Menschen handelt“.
Viele sehen in dem Institut einen verlängerten Arm für die Kulturpolitik der Fidesz-Regierung. Ob der zweite ungarische Literaturnobelpreisträger László Krasnahorkai einer ähnlichen Instrumentalisierung entgehen kann, wird sich zeigen. Er hat jedenfalls Vorkehrungen getroffen. Seinen Vorlass hat er im vergangenen Jahr der Österreichischen Nationalbibliothek übergeben.

