Vierte Station in Vermosh, Albanien:Freiheit

Vierte Station in Vermosh, Albanien: Dieser stolze Hund in Sankt Petersburg weigert sich, jede Möglichkeit eines Unheils vorauszusehen. Sein rechtloser Artgenosse in den nordalbanischen Bergen kann von solchen Möglichkeiten nur träumen.

Dieser stolze Hund in Sankt Petersburg weigert sich, jede Möglichkeit eines Unheils vorauszusehen. Sein rechtloser Artgenosse in den nordalbanischen Bergen kann von solchen Möglichkeiten nur träumen.

(Foto: Wolfgang Thaler)

In den abgelegenen Bergen Nord-Albaniens begegnet man Menschen, die nicht nur ihre Hunde um die verdiente Freiheit bringen, sondern auch sich selbst. Nach außen hin sind sie freundlich und tadellose Gastgeber. Doch hinter der Fassade brodelt es zuweilen. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

In den abgelegenen Bergen Nordalbaniens begegnet man Menschen, die nicht nur ihre Hunde um die verdiente Freiheit bringen, sondern auch sich selbst. Nach außen hin sind sie freundlich und tadellose Gastgeber. Doch hinter der Fassade brodelt es zuweilen.

In Sankt Petersburg, gleich links neben dem Bahnhof, führt eine kleine Gasse weg von der neuen Fassade der Stadt. Rechter Hand gibt es noch ein Radisson-Hotel, schön geölt wie die Kette eines Motorrades, das so tut, als wäre es etwas Besonderes, indem es eine weltoffene Farbigkeit zur Schau stellt.

Natürlich ist an der Qualität des Etablissements nicht zu rütteln: die Betten sind gut, die Wäsche ist sauber, das Service ohne Fehl und Tadel. Amerikanischer Standard.

Gleichzeitig stimmt daran gar nichts. Schon der Standort zwischen Bahnhof und dem Rest der Stadt ist strategisch zu verstehen - ein Außenposten. Hier kann der Tourist sich noch im Zentrum fühlen und am Sowjet schnüffeln. Er kann sich an der Größe dieser aus Blut und Knochen gebauten Stadt vollsaugen - zu groß für Menschen und zu klein für Götter - und sich gleichzeitig wundern, warum alles rundherum bröckelt, zerfällt und bricht, als wäre der böse Geist des Kommunismus noch nicht vollständig ausgetrieben.

Alles ein Museum, rechts eines und links eines. Eines kostet Eintritt, das andere nicht.

In dieser kleinen Gasse, im ersten Stock über einem der Hauseingänge, durch die man auf einem Pferd reiten könnte, stand allabendlich zur Dämmerstunde ein Fenster offen, und an diesem Fenster stand ein großer Hund. Er hatte die kräftigen Vorderpfoten auf das Fensterbrett gestellt und schaute über die Köpfe der Menschen und den Verkehr hinweg in die Ferne.

Freudige Sicherheit

Er bellte niemandem hinterher und war nicht offensichtlich aufgeregt oder ungehalten über das Geschehen auf der Straße unter ihm. Von seiner Haltung her musste man auch nicht fürchten, dass er herunterspringen oder fallen würde. Er schien eher zu warten - vielleicht darauf, dass sein Mensch nach Hause kommen möge.

Er strahlte eine freudige Sicherheit aus. Ja, der Mensch würde kommen, der Mensch, der ihm vertraute, da er ihm die Freiheit gab, so an diesem Fenster zu stehen und zu schauen, auch wenn es die vage Möglichkeit gab, dass er fallen könnte und dann tot wäre.

Vielleicht ist es genau das, was man Freiheit nennt, und warum es immer weniger davon gibt. Der Tod der Freiheit ist, jede Möglichkeit eines Unheils vorauszusehen und das Leben danach zu gestalten, und nicht in Betracht zu ziehen, was an Schönem entstehen kann, wenn man derlei Einschränkungen einfach ignoriert. Denn die Angst ist ein grauslicher Partner. Dieser Hund hatte die Freiheit der Möglichkeit, aus dem Fenster zu fallen, und genau das machte ihn zu einem stolzen Hund, der niemals fallen würde - und fiele er, dann fiele er glücklich.

Ein ganzer Tisch voller Speisen und Getränke

Sooft er auch durch diese Gasse ging, er versuchte immer, den Hund auf sich aufmerksam zu machen. Aber das war natürlich vergebens, denn er war ja nicht der Mensch dieses Hundes, und der Hund war, ob der ihm zugestandenen Position dort oben am Fenster, viel zu stolz und elegant, um ihn dort unten überhaupt zu beachten, geschweige denn, auf seine Annäherungsversuche zu reagieren. Er blickte einfach über ihn hinweg.

In Vermosh in Albanien sah er einen rechtlosen Hund im Vorgarten eines Hauses. Es lebten dort an sich gute Menschen. Sie hatten ein Haus voller Betten, Kinder im fernen Amerika und Wandteppiche, die Jesus und der Muttergottes huldigten. Sie waren freundlich zu Fremden, heizten ihre Stube und trugen Speisen und Getränke auf, dass kein Millimeter Platz mehr auf dem Tisch blieb, wenn Gäste da waren.

Fünfzig- und Hunderteuroscheine flattern durchs Zimmer

Sie machten aus dieser Gastfreundschaft ein kleines Geschäft. Ein Schild an der Straße wies darauf hin, dass sie Zimmer zu vermieten hatten. Kam jemand, wurde eilfertig alles hergerichtet, das Essen war besonderer als sonst, ausländisches Bier und einheimischer Schnaps wurde kredenzt, Fisch und Fleisch gebraten, der eingelegte Kohl aus dem Keller geholt, und der Kaffee blubberte am gut befeuerten Herd.

Der gute Mann sprach ein paar Worte Serbisch, Englisch und Deutsch, und seine gute Frau sagte immer wieder "Guten Appetit". Der gute Mann war schon alt, sein Herz schlug unregelmäßig, und sein Husten klang bedrohlich. Er salutierte vor den Gästen und spielte in manischer Geschwindigkeit auf einer Citeli, einer Langhalslaute, die sonst als Dekoration an der Wand hing.

Er vergaß, dass er das auf diese Weise eingenommene Geld in den Bettdecken versteckte, und wenn er seine Gäste zudeckte, flatterten die Fünfzig- und Hunderteuroscheine durch das Zimmer. Manchen versohlte er auch vor dem zu Bett gehen spielerisch den Hintern, als wären sie seine eigenen Kinder.

Diese Kinder lebten in Mannhatten, irgendwo an der 42sten Straße. Sie erschienen ihm als Skype-Geister, saßen auf plastiküberzogenen Sofas, wenn sie mit ihm sprachen, und ermahnten ihn halbherzig, auf seine Gesundheit zu achten.

Er bekam dann einen bitteren Zug um den Mund, ging hinaus in den Winter, stellte sich ohne Socken in den kalten Fluss auf der anderen Seite der Straße und schaute auf die sonnenbeschienenen und schneebedeckten Berge am Ende des Tales.

Schlechte Witze über die eigene Frau

Der Nachbar, der gerade sein Pferd in der Furt tränkte, grüßte ihn, als wäre nichts. Das beruhigte den guten Mann. Er ging zurück zum Haus, sah den schlecht gemauerten Swimmingpool, den er für die Gäste gebaut hatte, und das Baumhaus, in dem im Sommer die Touristen auf ausgestopften Tieren saßen wie dumme Kinder.

Sie tranken Bier mit der Gier dummer Kinder, die noch gar kein Bier trinken durften, und erfreuten sich daran, dass hier alles besonders billig war, und die Berge doch gleich hoch und gleich verschneit waren wie dort, wo es teuer war, und dass man nicht auf ausgestopften Tieren sitzen konnte.

Der Mann hatte sich auch angewöhnt, den Touristen gegenüber schlechte Witze über seine Frau zu machen, obwohl er sie abgöttisch liebte. Er war hektisch geworden, um allen zu genügen, denen man gar nicht genügen musste.

Halbkreis an Scheiße

Dafür würden die Enkel die Euronoten in den alten Decken finden, und jugoslawisches Geld aus den neunziger Jahren. Sie würden einander staunend die Scheine zeigen, über den Großvater lächeln und sich dann mir Bier aus Genhopfen im nahegelegen Radisson betrinken.

Es gab Momente, da begriff der gute Mann all das. Dann trat er vor sein Haus mit einem Emailtopf in der Hand und schaute traurig auf seinen Hund, den er vor Jahren an die Kette gelegt hatte, damit der nicht etwa einen Touristen beißen würde.

Der Hund wedelte aufgeregt, unterwürfig und mit eingezogenem Schwanz angesichts des Futters, das er gleich bekommen würde. Die Länge seiner Kette war durch einen Halbkreis an Scheiße definiert, die um seine Hundehütte im Schnee lag. Das Futter würde diesem Halbkreis ein Stück hinzufügen.

Der gute Mann fütterte den Hund nicht an diesem Tag. Er ging mit einem Gewehr in der Hand in die Berge und legte sich auf die Lauer. Er wusste, dass er den ersten Mountainbiker, der mit buntem Outfit, Helm und 24-Gang-Schaltung die Schlucht heraufgeradelt kam, abknallen würde wie einen tollwütigen Hund.

https://www.facebook.com/MichaelGlawogger

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