Videospiel:Trauma zum Mitmachen

Lesezeit: 2 min

Das Videospiel "Erica" ist Game und Film zugleich. Das kennt man schon von TV-Angeboten bei Streamingdiensten. Fusionieren die Genres?

Von Kevin Scheerschmidt

Erica Mason hat traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit machen müssen. Ihre Mutter verstarb früh, ihr Vater wurde brutal ermordet. In seinen Oberkörper wurde ein rituelles Symbol geritzt. Als sie viele Jahre später ein Paket erhält, in dem eine abgetrennte Hand ein Siegel mit demselben Symbol festhält, holt sie die Vergangenheit wieder ein.

Der Spieler des interaktiven Films "Erica" (für Playstation 4; 10 Euro), das im August überraschend veröffentlicht wurde, folgt seiner Protagonistin auf der Suche nach Antworten. Wer ist für den Mord verantwortlich, was war mit der Mutter? Was hat das Symbol zu bedeuten? Und kann Erica tatsächlich in die Zukunft sehen, wie ihr Vater zu glauben schien?

"Erica", das wahlweise mit dem Touchpad des Controllers oder dem Smartphone gesteuert werden kann, ist allerdings eher ein zweistündiger Film als ein Spiel. Der Zuschauer-Spieler ist aufgefordert dessen Handlung aktiv zu beeinflussen. Ständig, nicht nur an den handlungskritischen Punkten, werden ihm Entscheidungen über den weiteren Verlauf abverlangt. Das Bildmaterial wurde mit realen Schauspielern gedreht und ist nicht am Computer entstanden. Die Szenen für die Entscheidungspausen des Spielers sind gut gemacht, man hat kaum den Eindruck, dass der Film stoppt. Dennoch entsteht durch viele Unschärfen und deutliche Hell/Dunkel-Kontraste ein typisch videospielhafter Look. Was ist "Erica" also? Videospiel oder Film?

Ärgerlicherweise fehlt dem Spiel die Funktion, zwischenspeichern oder vorspulen zu können

Als elektronisches Spiel auf einem Monitor, in das der Spieler eingreifen kann, gehört "Erica" gewiss zu den Videospielen. Es verfolgt ein ähnliches Prinzip wie die bekannten interaktiven Filme "Heavy Rain" (2010) und "Until Dawn" (2015). Demgegenüber steht die Episode "Bandersnatch" der Netflixserie "Black Mirror", die genau so funktioniert wie "Erica": Der Zuschauer (oder Spieler?) hat verschiedene Optionen und bestimmt durch seine Entscheidungen die fortlaufende Handlung. "Black Mirror: Bandersnatch" wird aber keineswegs als Videospiel beworben.

Ericas Reise führt sie in das "Delphi Haus", eine von ihrem Vater gegründete Nervenheilanstalt, in der ihre Mutter starb und sie geboren wurde. Der Zuschauer kann zuerst entscheiden, mit welcher der Patientinnen Erica Zeit verbringen soll: Der Sympathischen, der Wütenden oder der Ängstlichen. Je nach Wahl folgen unterschiedliche Kurzgeschichten.

Die Stimmung ist düster, die Handlung mysteriös und wegen der vielen Optionen auch kompliziert. Erst durch mehrmaliges Spielen entfaltet sich das Gesamtbild, und dann erst lösen sich alle Fragen auf. Hätte man eine bestimmte Person vielleicht doch retten können, wenn man sich anders entschieden hätte? Ärgerlicherweise fehlt dem Spiel die Funktion, zwischenspeichern oder vorspulen zu können. Nur um in der letzten Szene eine Entscheidung anders treffen zu können, möchte man ja nicht alles noch mal genau so spielen.

Spielerisch bietet "Erica" neben den Möglichkeiten, in die Dramaturgie einzugreifen, auch ein paar nette Spielereien: Ein Zippo-Feuerzeug kann aufgeklappt und entzündet werden. Die Entscheidung, dann etwas niederzubrennen oder nur eine Öllampe zu entzünden, liegt dicht beieinander.

Filmisch schafft es "Erica" nie, den Zuschauer emotional abzuholen. Die unbekannte Schauspielerin Holly Earl spielt die niemals lächelnde Erica als Traumakloß. Ihre tief sitzende Trauer und innere Zerrissenheit werden kaum spürbar. Die Nebenfiguren bleiben blass, und die Geschichte lange Zeit nahezu unverständlich. Bei nur einmaligem Spielen bleiben viel zu viele Rätsel von vielen Handlungssträngen ungelöst. Man muss also "Erica" mehrmals spielen und damit auch die nervigen Wiederholungen in Kauf nehmen.

Das Potenzial der Genremischung, die "Bandersnatch" so hervorragend gelingt, kann "Erica" nur andeuten, kaum ausschöpfen. Dafür hätte es ein klügeres Drehbuch, einen besseren Regisseur und eine lebendigere Titelheldin gebraucht. Video-Games killen noch keine TV-Stars.

© SZ vom 06.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: