Video-Essayisten:Das sind die Superstars der Filmkritik

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Wer die Youtube-Kanäle der neuen Video-Essayisten abonniert, stößt auf ein reiches Angebot an überraschenden Analysen.

(Foto: Youtube)

Warum mit Worten über Bilder schreiben? Video-Essayisten experimentieren mit neuen Formen der Filmanalyse - und begeistern die Fans.

Von Philipp Bovermann

Tony Zhou nennt es den "Tibet-Test". Er habe einmal, schreibt er auf dem Online-Portal Reddit.com, während einer Reise durch Tibet in einem Teehaus im Niemandsland "Der weiße Hai" gesehen. Die Bildqualität des Fernsehers war erbärmlich und der Film auf Mandarin untertitelt, eine Sprache, die keiner der Gäste zu sprechen schien. Das Meer kannten sie lediglich aus Erzählungen. Trotzdem waren sie völlig aus dem Häuschen.

Der Tibet-Test lautet also: "Ist der Film noch verständlich mit miesen Untertiteln, einem schrottigen Fernseher und einem Publikum, das den Kontext nicht versteht?" Tony Zhou erzählt diese Geschichte, weil er mit seinen Online-Clips die Qualität von Filmen ähnlichen Tests auf ihre handwerkliche Beschaffenheit unterzieht. Er gehört zur wachsenden Szene von Video-Essayisten, die seit einigen Jahren im Internet die Filmkritik und Filmwissenschaft als ein multimediales Genre neu erfinden.

Anstatt in einem Text aus zweiter Hand zu beschreiben, was sich der Leser mal besser, mal schlechter vorstellen kann, arbeiten Video-Essayisten direkt am Filmmaterial. Sie holen es sich von DVDs oder aus dem Internet und schneiden daraus die Szenen, die ihnen für ihre Argumentation wichtig sind, zu kurzen Kompilationen zusammen. Worauf der Zuschauer achten soll, warum er sieht, was er gerade sieht, erfährt er in einem Voice-Over.

Tony Zhou ist der aktuelle Superstar der Szene. Sein letztes Video "The Marvel Symphonic Universe" hat zum jetzigen Zeitpunkt mehr als 4,4 Millionen Aufrufe auf Youtube zu verzeichnen. Zhou untersucht darin, warum sich, wie er mit ein paar kurzen Interviews auf den Straßen seiner Heimatstadt Vancouver beweist, kein Mensch an irgendeine Melodie aus einem Marvel-Film erinnern kann. Dazu isoliert Zhou in bestimmten Szenen die Musik, schaltet sie ganz ab, oder er schneidet Szenen aus verschiedenen Marvel-Filmen zu einem fortlaufenden, austauschbaren Stück Musikbrei zusammen.

Der Zuschauer fühlt sich, als säße er mit "Tony", als der er sich am Anfang jedes Videos vorstellt, zusammen im Schneideraum. Dessen Theorie: Die "Temp"-Musik sei schuld, also die Praxis, Szenen während laufender Filmproduktionen mit bestehenden Stücken zu unterlegen, um sich das emotional schon mal besser vorstellen zu können und um dem Komponisten später zu sagen: Wir hätten gern etwas, das im Grunde genau wie das hier klingt.

Ein Nutzer namens Dan Golding antwortete Zou mit einem eigenen Videoessay. Nicht das endlose gegenseitige Wiederaufgewärme sei das Problem, behauptet er - und demonstriert, wie schon "Star Wars" mit der Musik des Golden Age-Westerns "King's Row" von James Wong Howe "getempt" wurde. Schuld sei vielmehr "this guy" - der Keyboarder im Musikvideo von "Video Killed The Radio Star": Hans Zimmer. Und damit die Musikproduktion am Computer, für die Zimmer in Hollywood wie kein anderer steht.

Erstaunlich ist das Interesse des Publikums, das aus den Kommentarspalten spricht

Erstaunlich an diesen multimedialen Diskussionen ist, neben der offensichtlichen filmhistorischen und analytischen Kompetenz, das leidenschaftliche Interesse des Publikums, das aus den Kommentarspalten spricht. Während beim Verband der deutschen Filmkritik immer wieder laut darüber nachgedacht wird, ob Filmkritik nicht eigentlich ein Kulturgut und somit subventionswürdig sei, lassen sich viele Video-Essayisten durch Crowdfunding in ihrer Arbeit unterstützen, und tatsächlich: Die Filmfans zahlen.

Filmfans lieben nun mal Filme, und genau das sind Videoessays. "Ihr müsst sie also auch strukturieren und rhythmisieren, wie es ein Filmemacher tun würde", rät Zhou in einem seiner eigenen Clips mit dem Untertitel "How to structure a video essay". Er selbst arbeite nach der Formel "Therefore, But, Meanwhile back at the ranch". Bei jedem Wechsel der Sequenz frage er sich, was dadurch aus dem zuvor Gesagten folgt ("Therefore") oder inwiefern es diesem widerspricht ("But").

Videoessays als eine Art Grammatikschule

Anstatt die Bilder also lediglich zur Illustration des gesprochenen Texts aneinanderzureihen, verwendet er sie rhetorisch, als das Alphabet einer visuellen Sprache - die man idealerweise sogar noch im tibetanischen Hochland versteht, wenn es dabei um einen Killerhai geht. Tatsächlich tragen sogenannte Supercuts ihre Thesen ohne ein einziges Wort im Voice-Over vor.

Tritt aber doch ein Erzählerkommentar hinzu, können sich Text und Bild nicht nur ergänzen, sondern auch in vielfältige Spannungsverhältnisse treten. Der Kritiker kann zudem mehrere Argumentationsstränge szenisch voneinander abgrenzen (das meint Zhou mit "Meanwhile back at the ranch"); oder er führt verschiedene Erzählerstimmen ein. Das kritische Potenzial und die Popularität der Videoessays sind also zwei Seiten derselben Medaille: Gute Filme teilen sich mit.

Kevin B. Lee, den die New York Times den "King of Video Essays" nannte, war 2007 einer der Pioniere des Genres. Inzwischen, sagt er, sei die Szene so groß und vielfältig geworden, dass kein einzelner Mensch mehr den Überblick behalten könne. Fast täglich treten neue Protagonisten auf. Lee sieht darin nicht in erster Linie ein Symptom für den Wandel der Kommunikationskultur im digitalen Zeitalter, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit ihr. Filmemachen sei heute "eine Sprache, keine spezialisierte Fähigkeit mehr. Wir sprechen mit anderen, indem wir Videos auf Snapchat posten." Videoessays funktionierten demnach als eine Art Grammatikschule für diese multimediale Lingua franca.

Gegenüber den eher erklärbärhaften Filmen von Tony Zhou sind die von Lee viel offener gestaltet. Man sitzt nicht mit "Tony" im Schneideraum, sondern sieht "Kevin" beim Denken zu. In dessen "Desktop Documentary" zur Rolle von Fanvideos bei der Promotion von "Transformers 4" schaut der Zuschauer ihm buchstäblich über die Schulter. Alles findet auf der Oberfläche von Lees Computer statt. Dort wohnt der Zuschauer der Recherche bei, die zugleich den eigentlichen Film bildet.

"Transformers - The Premake" wurde auch auf Filmfestivals gezeigt; bei der "Woche der Kritik" zur Berlinale 2015 erhielt er viel Lob. Das Selbstvertrauen, sich tatsächlich als Filmemacher zu begreifen, sagt Lee, wurde ihm aus Deutschland übermittelt. Schon 2009 luden ihn die "Freunde der Vermittlung von Film und Text" zu einer Präsentation seiner Videoessays nach Berlin ein. Erst dort habe er begriffen, dass das, was er mache, "nicht nur irgendeine typisch zwanghafte Beschäftigung eines Cinephilen" sei. Seit Ende Dezember hat er nun die erste "Residency" des neu gegründeten Harun-Farocki-Instituts angetreten. Dieses inthronisierte Lee damit als intellektuellen Nachfolger des 2014 verstorbenen Farocki, der ebenfalls die mediale Wirklichkeit seiner Zeit untersuchte, ihre zeichenhaften Strukturen, die "Mythen des Alltags", wie es der Philosoph Roland Barthes nannte.

Harocki lässt sich, zusammen mit Namen wie Alexander Kluge, Chris Marker, Jean-Luc Godard und Alain Bergala in die vornehmlich europäische Tradition der Essayfilme einordnen. Die Videoessay-Szene existiert bislang allerdings fast ausschließlich in den USA.

Weil das europäische Recht so streng ist, existiert eine Szene fast nur in den USA

Der Grund dafür liegt in den strengeren europäischen Urheberrechtsgesetzen. Wenn ein Studio protestiert, dem die verwendeten Filmausschnitte gehören, hat es die Richter hierzulande meist auf seiner Seite, in den USA werden solche Clips im Rahmen des Zitatrechts häufiger für zulässig erklärt. Doch auch das strengere Recht in Europa muss ja nicht zwangsläufig angewendet werden, sagt der Filmwissenschaftler Michael Baute. Gerade kleinere Produktionen freuten sich oft sogar, wenn Videoessays über ihre Filme entstehen - das bezeugt schließlich Interesse. Michael Baute bietet an verschiedenen deutschen Hochschulen Kurse an, in denen die Studenten Videoessays anfertigen. In einem Fall habe die Produktionsfirma die fertigen Filme der Studenten sogar als Bonusmaterial mit auf die DVD gepackt.

Solche Großzügigkeit scheint im Trend zu liegen. Als das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr mit seiner Entscheidung zum Thema "Sampling" die Rechte der Künstler gegenüber den Verwertern gestärkt hat, betraf das zwar nur die Musik - aber das Filmbild könnte folgen. Und auch die Rechteinhaber scheinen sich behutsam in Richtung Gewährenlassen zu bewegen. In den USA dagegen - Schnitt zurück nach dem Prinzip "Meanwhile back at the ranch" - werden Videoessays schon an vielen Universitäten, quer durch die Fachgebiete, als Prüfungsleistungen anerkannt. Würde man dasselbe hierzulande versuchen, müsste man damit rechnen, dass man hängen bleibt - ganz so, als würde mitten im Video noch das Lade-Symbol erscheinen, das anzeigt: das System braucht leider noch etwas Zeit.

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