Kino und wahre Begebenheiten:Riskanter Handel mit gefühlten Wahrheiten

Vice - 69th Berlin Film Festival, Germany - 30 Oct 2017

Amy Adams und Christian Bale als Lynne und Dick Cheney im Kinofilm "Vice".

(Foto: Matt Kennedy/Annapurna Pictures)

Ist es für "Vice" relevant, wie viele Herzinfarkte Dick Cheney wirklich hatte? Und liegen in Mexiko Gebetsteppiche, wie Donald Trump behauptet? Über den Stellenwert von Wirklichkeit im Kino.

Von Susan Vahabzadeh

Wann immer sich das Kino die Wirklichkeit zum Vorbild nimmt, und das tut es wahrlich oft, wird irgendjemand darauf hinweisen, dass die Abbildung nicht akkurat genug ist. Der amerikanische Regisseur Adam McKay war sich dessen bewusst, als er seinen neuen Film "Vice" gedreht hat, über den Vizepräsidenten Dick Cheney, der am Donnerstag im Kino startet. Ist die Darstellung präzise? Was Christian Bale angeht, der ihn spielt, kann man nur sagen: Genauer geht es nicht. Die Debatte darüber, ob das nun alles ganz genau so passiert ist, hat McKay in seinen Film sogar eingebaut.

Manche Dinge sind gesichert: dass Cheneys Frau Lynne mit im Situation Room war nach dem Angriff aufs World Trade Center, dass die eine Tochter im Kongress sitzt und gegen die Schwulenehe ist und die andere ihre Lebensgefährtin geheiratet hat. Man kann über das Gesamtbild streiten, McKays Mosaik aus Fakten und Fantasien, was genau die Cheneys nach einem bestimmten Ereignis denn wohl abends im Bett besprochen haben. War George Bushs Vize Dick Cheney mächtiger als sein Chef, ist er die Wurzel allen Übels, und zwar mindestens seit dem Irakkrieg?

Die Frage kann man stellen, aber sie wird sich nicht dadurch beantworten lassen, dass man genau nachzählt, ob im Film tatsächlich nicht mehr Herzinfarkte vorkommen, als der echte Dick Cheney hatte (fünf). Die meisten medialen Angriffe, die McKays Film in den letzten Wochen widerfahren sind, haben solche Kleinigkeiten moniert.

Wie viel genau Cheney als Student getrunken hat, bevor er wegen Trunkenheit am Steuer dran war, kann McKay nicht wissen. Aber es ist auch nicht wichtig. Sich diese fehlenden Teile für ein Porträt auszumalen, ist vollkommen normal - jeder Spielfilm nach wahren Begebenheiten muss das tun, weil nie jede Sekunde eines Lebens eindeutig belegbar ist. Vor ein paar Jahren hätte jeder, der dem Kino verbunden ist, ohnehin gesagt, dass Filme keine Lehrveranstaltung sind. Wer es genauer wissen will, sollte ein Geschichtsbuch lesen. Wer sich Greta Garbo in "Mata Hari" aus dem Jahr 1931 ansieht und dann glaubt, er wisse jetzt alles über die Spionin, deren Leben diese Geschichte so ungefähr erzählt, ist selbst schuld.

"Vice" ist kein Dokumentarfilm, und wer genauer wissen will, wie man Cheney und sein politisches Erbe einschätzen soll, wird ohnehin eine zweite Meinung einholen müssen, und auch noch eine dritte. Und doch fühlen sich selbst Kinoliebhaber mit ungenauen Darstellungen nicht mehr so wohl wie früher.

In Filmen werden oft Fakten verändert, weil die Studios Klagen vermeiden wollen

Diverse Verschiebungen haben stattgefunden. Erst einmal ist das sogenannte Fact-Checking wesentlich leichter geworden. Früher war es für Journalisten weit schwieriger nachzuvollziehen, wann genau nun Dick Cheney woran erkrankt ist, für gewöhnliche Zuschauer war es geradezu unmöglich. Dafür taten sie sich leichter, ein Kunstwerk als Kunstwerk zu akzeptieren und ihm zuzugestehen, dass es zum Fact-Checking nicht taugt. Das Wort gab es ja auch gar nicht.

Das Kino trägt selbst zu diesem Unbehagen bei, weil es seinen eigenen Fiktionen nur noch selten traut. "Nach einer wahren Geschichte" steht inzwischen so oft im Vorspann, als hätten erfundene Geschichten, von Märchen und Sagen bis hin zu Thomas Mann und William Faulkner, nicht traditionell ihre eigene Wahrheit geschaffen, indem sie aus echten Fäden Fiktionen strickten. Die Atmosphäre ist inzwischen von Erfindungen vergiftet, und diese erzeugen Misstrauen. Es ist ein bisschen so, als würde dieses oft angebrachte, aber mühselige Misstrauen Energie verbrauchen, die dann nicht mehr da ist, um sich auf die Fiktionen im Kino einen eigenen Reim zu machen.

Woher hatte Trump das mit den Gebetsteppichen?

Wie so oft ist Donald Trump das beste Beispiel dafür, dass irgendwas nicht in Ordnung ist. In den Wochen bevor er den Notstand ausrief, um eine Mauer an der Grenze zu bauen, hat er bei öffentlichen Auftritten hin und wieder von gekidnappten lateinamerikanischen Frauen geredet, die von Menschenhändlern über die Grenze zwischen Mexiko und den USA gebracht wurden, mit Klebeband gefesselt. Und davon, dass die Drogenbosse bessere Autos hätten als die amerikanischen Behörden; und dass im Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA Gebetsteppiche gefunden worden seien. Washington Post, CNN und andere schickten Reporter los, um herauszufinden, wo er diese Geschichten herhatte.

Die Reporter von CNN taten den Fall einer mit Klebeband gefesselten Frau auf, der den Schönheitsfehler hatte, dass die Frau Amerikanerin war. Grenzschützer durchsuchten ihre Datenbanken vergeblich nach einem Fund von Gebetsteppichen. Es gab sogar Berichte, Regierungsbeamte hätten den Auftrag erhalten, nach Belegen für die präsidialen Schilderungen zu suchen, nachdem ein erster zweifelnder Artikel in der Washington Post erschienen war. Die Reporter wurden dann doch noch fündig. Die Autos, die gefesselten Frauen und die Gebetsteppiche an der Grenze kommen im Film "Sicario 2" vor, der im vergangenen Sommer im Kino lief. Ob er nun die Szenen aus Versehen oder mit Absicht als Realität beschrieb, ob ihm jemand einen Floh ins Ohr gesetzt hat - das weiß keiner.

Für einen Film ist die Idee mit den Islamisten in der mexikanischen Wüste ganz gut, wenn auch die echten Flüchtlinge in der Gegend aus Honduras oder Venezuela kommen, und nicht aus Syrien oder Afghanistan. Kann man den Machern von "Sicario" nun vorwerfen, dass sie etwas erfunden haben, was andere dann benutzen, um Flüchtlinge als potenzielle Terroristen zu brandmarken? Es gäbe, wollte man das, jedenfalls viel zu tun. Und wo fängt man an? Das Fernsehen hat sich seit seinen Anfängen für Krimiserien bei realen Fällen bedient, von der deutschen Serie "Stahlnetz" Anfang der Sechzigerjahre bis zu modernen amerikanischen Krimis, wo gleich mehrfach Folgen gedreht wurden, die sich den Fall des Models Anna Nicole Smith zum Vorbild genommen haben. Ein beliebter Krimiplot ist auch der Fall des Autors Jayson Blair - der ironischerweise der New York Times erfundene Geschichten andrehte.

Früher gab es Debatten, weil Mörder sich von Filmen inspirieren ließen

Nun werden im Kino und im Fernsehen, selbst dann, wenn es um reale Vorbilder geht, oft Namen geändert und Orte umbenannt, schon um einer Flut von Klagen zu entgehen, die sonst auf die Filmstudios zukäme. Es kann aber keiner ernstlich verlangen, dass jede Stadt nur mit ihrer aktuellen Verbrechensrate porträtiert werden darf. Schon der erste "Sicario"-Film sorgte für Ärger, weil er nicht sauber recherchiert war. Damals fühlte sich die Grenzstadt Ciudad Juárez verunglimpft, die fürchterliche Kriminalität, die der Film von 2015 zeige, gebe es seit 2010 nicht mehr.

Aber "Sicario" ist kein Dokumentarfilm über die Situation in Ciudad Juárez. Das ist eigentlich nichts anderes, als wenn sich die amerikanische Behörde für die Untersuchung von Flugunfällen durch den Film "Sully" verunglimpft fühlt, in dem Tom Hanks den Helden vom Hudson spielt, den Piloten, der seine Passagiere rettete, indem er in New York auf dem Wasser notlandete. Würde man der Logik folgen, die diesen öffentlichen Beschwerden zugrunde liegt, dann dürfte es über Dick Cheney nur ein Heldenepos geben.

Schon komplizierter ist es mit der Geschichte, die sich Lynne Ramsay für ihren Film "You Were Never Really Here" (2017) ausgedacht hat. Denn auch da steckt viel Wirklichkeit drin, aber sie ist verdreht. Joaquin Phoenix spielt einen Mann, der an Flashbacks leidet und besessen und mit ungeheurer Brutalität die Opfer eines Mädchenhändlerrings aufspürt und ihre Peiniger massakriert. Der Film lief erstmals ein halbes Jahr nachdem ein echter Mann in eine echte Pizzeria in Washington gestürmt war und dort wild um sich geschossen hatte. Er war einer (widerlegten) Verschwörungstheorie aufgesessen, die Pizzeria gehöre zu einem von Hillary Clinton geführten Mädchenhändlerring. Auf jeden Fall verändert hier die Wirklichkeit den Blick auf die Figuren. Und die Überschneidungen von Wirklichkeit und Kino hinterlassen manchmal einen unangenehmen Beigeschmack.

Es hat früher andere Debatten übers Kino gegeben, über die Auswirkungen der Geschichten auf Menschen. Besonders heftig entbrannten sie um die Jahrtausendwende, als eine Reihe von Morden geschahen, die von Filmen inspiriert zu sein schienen oder wo die Täter einen Film als Vorbild nannten. Es gab ein "Natural Born Killers" Pärchen, einen "Scream"-Nachahmer, einen, der jemanden erstach und es auf "American Psycho" schob, als wäre die Kunst für sein Handeln verantwortlich. Vielleicht steckt einfach viel zu viel Kino in unserem Alltag. Das Kino handelt mit gefühlten Wahrheiten, und das tun heute viel zu viele andere auch.

Zur SZ-Startseite
November 30 2018 Hollywood California U S Christian Bale stars in Vice Hollywood U S PUBLIC

SZ PlusChristian Bale über
:Hunger

Für seine Rolle als ehemaliger Vizepräsident Dick Cheney hat der Schauspieler 20 Kilo zugenommen - und danach wieder ab.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: