"Vesper" im Kino:Der Keim der Ungerechtigkeit

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Raffiella Chapman kämpft sich als Vesper durch den organischen Schlamm der Zukunft. (Foto: Plaion Pictures/Plaion Pictures)

Der Science-Fiction-Film "Vesper" zeigt eine postapokalyptische Welt.

Von Kathleen Hildebrand

Alles lebt in diesem Film, ist organisch, glitschig, hat Tentakel und Fühler. Aber was lebt, ist nicht zwangsläufig schön. Diese allgegenwärtige Organizität, die Kristina Buozyte und Bruno Samper in "Vesper" erschaffen haben, ist das Ergebnis eines gescheiterten Experiments. Die Menschheit hat versucht, ihren Planeten zu retten, mit Gentechnik. Aber sie war dabei stümperhaft.

Von alleine wächst nicht mehr viel in diesem schlammgraubraunen ewigen November. Das Mädchen Vesper (Raffiella Chapman) klaubt hässliche Knollen aus einem Feld, dann hüpft sie über einen Weg zu ihrem Haus. Nicht, weil sie fröhlich ist, dazu gibt es keinen Grund, sondern weil zwischen den Pflastersteinen Würmer nach ihren Füßen schnappen. Ihr Vater ist krank, er liegt im Bett, angeschlossen an schmuddelige Apparaturen, in denen so etwas wie eine künstliche Lunge pumpt. Begleiten kann er sie trotzdem auf ihren Streifzügen durch die Wälder: Sein Geist kontrolliert eine Drohne, die neben Vesper herschwebt und alles, was sie sieht, grummelig kommentiert. Das Mädchen hat ein lachendes Gesicht auf ihre Hülle gemalt.

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Einerseits bedient "Vesper" mit dieser tristen Landschaft aus Hoffnungslosigkeit und Zerstörung die Erwartungen ans Genre der Dystopie. Aber die Bilder, die das Regie-Duo dafür erfindet, sind außergewöhnlich und wirklich neu. Mit Gentechnik verbindet man als Filmzuschauer die Ästhetik keimfreier Laborräume. Nicht die schmutzigen Phiolen und Schläuche in Vespers Kinderzimmer. Das Mädchen ist eine hochbegabte Autodidaktin im Bio-Hacking. Sie verändert Samenkörner und züchtet daraus in einem verlassenen Gewächshaus Pflanzen von jener fragilen Schönheit, die man aus Tiefsee-Dokus kennt. Sie wiegen ihre transparenten Köpfe im Nachtwind und lassen einander aufglühen.

Vesper hofft, dass ihre Fähigkeiten ihr irgendwann Zugang zu den "Zitadellen" verschaffen: hochtechnisierten Großstädten, die in der Ferne leuchten, geschützt von gewaltigen Seifenblasen. Hier leben die Reichen, abgeschottet vom Schmutz der restlichen Welt. Sie kaufen von den Schmuddelleuten draußen das abgezapfte Blut von deren Kindern, wahrscheinlich, um sich jung zu halten. Als Vesper im Wald eine verletzte junge Frau aus der Zitadelle findet (Rosy McEwen), keimt ihre Hoffnung auf die Flucht in ein besseres Leben auf.

Dass diese Vision heute mit jeder Klimawandel-Schreckensmeldung, mit jeder irren Geschichte über die Visionen der Multimilliardäre realistischer wirkt, muss man nicht betonen. Die Eliten in ihren Seifenblasen kontrollieren die Armen durch das Saatgut, das sie ihnen teuer verkaufen. Es bringt nur eine Ernte, dann wird es unfruchtbar und die Bauern müssen neue Samen kaufen. Der ganz reale Saatgut-Konzern Monsanto der Gegenwart hat schon lange ein Patent für so etwas, gelobt aber bislang, es nicht zu benutzen. Die Welt dieses Films ist längst in unserer eigenen angelegt. "Vesper" gehört zu einem Subgenre der Science-Fiction, das mit anderen, größeren Filmen wie "Interstellar", "Avatar" und "Downsizing" schon länger an Schwung gewinnt: der Öko-Dystopie.

Was Buozyte und Samper aus ihrem europäischen und deshalb zwangsläufig kleineren Budget machen, ist bemerkenswert. Sie setzen Computereffekte sparsam ein, aber wenn sie es tun, sind sie absolut überzeugend. Eine gewisse Uneinheitlichkeit im Ton - ein paar Szenen fallen in ihrer Brutalität arg aus dem Rahmen - kann man dem Film verzeihen, weil er so voll von wuchernder visueller Fantasie ist. Die Hoffnung, die er am Ende in den Abendwind entlässt, ist die auf eine Welt, wie sie gerade vor unseren Augen zugrunde geht.

Vesper Chronicles , B/F/Litauen 2022 - Regie: Kristina Buozyte, Bruno Samper. Buch: K. Buozyte, B. Samper, Brian Clark. Kamera: Feliksas Abrukauskas. Mit: Raffiella Chapman, Rosy McEwen, Eddie Marsan. 114 Minuten. Plaion Verleih. Kinostart: 6. Oktober 2022.

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