Am Ende konnte er Musik nicht mehr ertragen. Sie schmerzte ihn. Sie kam durch sein Hörgerät als Gekreisch, Gekrächz, Gepolter. Wie immer untertrieb er ein wenig, wenn er in hanseatischer Nüchternheit sagte, dies sei die Tragödie seines Alters. Es war sicherlich viel mehr und viel schlimmer, es war ein Seelensterben, ein vorzeitiger Gemütstod. Denn das Außergewöhnliche an Helmut Schmidts musikalischem Leben ist nicht unbedingt die Tatsache, dass er Klavier spielen konnte. Auch wenn man sich wundert, wie solcherlei zeitraubende Fähigkeiten in dieser komplexen Biografie Raum fanden.
Nein, das wirklich Besondere und für einen in deutscher Kulturtradition aufgewachsenen Menschen ist die Tatsache, dass Helmut Schmidt in dem vielleicht größten Komponisten Johann Sebastian Bach nicht in erster Linie das konstruktive Genie, die mathematische Begabung, das konsequente Durchhaltevermögen gesehen hat, sondern dessen ungeheure kathartische Potenz, die in seiner Musik liegt.
Bach und Mozart lagen Helmut Schmidt ganz besonders, sicherlich nicht nur deshalb, weil beide große Werke mitunter auch für bescheidenere technische Ansprüche hinterlassen haben.
So ist Wolfgang Amadeus Mozarts charmantes F-Dur-Konzert für drei Klaviere und Orchester KV 242 auch aus solcherlei Gründen das einzige, das er nicht für sich selber schrieb, sondern für die Gräfin Lodron und deren Töchter Aloisia und Josepha.
Helmut Schmidt hatte für die Studioaufnahme dieses Konzertes stattdessen Justus Frantz und Christoph Eschenbach zur Seite. Und obwohl die Salzburger Gräfin Lodron keineswegs im Strudel der Geschichte unterging, so wird man vielleicht bald sagen können, dass Helmut Schmidt nachhaltig dafür gesorgt hat, dass dieses Konzert nicht gänzlich der Vergessenheit anheimgefallen ist.
Ein mystischer Zauber, der sonst keinen Platz in seinem Leben hatte
Dennoch, darin lag sicherlich nicht der Ehrgeiz oder die Motivation für den damaligen Bundeskanzler. Warum er sich überhaupt zu einer Schallplattenaufnahme hinreißen ließ, wird man vielleicht nie ganz ergründen. Dass es ihm gehörigen Spaß machte, sich darin von politischen Freunden und Feinden so demonstrativ zu unterscheiden, davon kann man ausgehen.
In Mozarts Klavierkonzert ging es auf einmal nicht mehr darum, "seine Pflichten zu erkennen und ihnen zu genügen", wie er seine Kant'sche Grundeinstellung einmal formulierte. Stattdessen ging es um etwas kaum Greifbares, einen mystischen Zauber, wie er im Leben des Politikers Schmidt sonst keinen Platz hatte.
Und doch gibt es eine unmittelbare Verbindung zum politischen Alltag. Bei den täglichen Konferenzen im Kanzleramt war er gefürchtet, weil er einfach immer am besten vorbereitet war. Und es nicht ausstehen konnte, wenn es sich andere damit zu leicht machten.
Auch deshalb muss er die Situation im Plattenstudio als einen glücklichen zwischenmenschlichen Zustand empfunden haben. Denn ohne gute, ja bestmögliche Vorbereitung blamiert sich hier jeder gleich selber, ohne dass er von anderen stigmatisiert werden muss.
Aber dann gab es da doch noch viel tiefergehende Gründe, warum Helmut Schmidt die Musik für sich nicht nur mal so als Hobby entdeckt hat, sondern ein Leben lang als kategorial empfunden oder erkannt hat.
Er hat es nie selber formuliert, hat sich bei entsprechender Nachfrage auf Johann Sebastian Bach berufen, der gesagt habe, Musik sei Rekreation fürs Gemüt. Aber wie sehr sie das sein kann, wie sie sogar Kriegstraumata mildern und über sie hinweghelfen kann, das ist selber schon wieder eine solch intime Angelegenheit, dass Helmut Schmidt der letzte gewesen wäre, der sich großspurig darüber ausgebreitet hätte.
Klar war, dass man um der optimalen musikalischen Wirkung willen selber aktiv werden musste, Fähigkeiten schon sehr lange Zeit vorher und allein aus sich heraus mit Disziplin, Konzentration, Beharrlichkeit und schier grenzenloser Ausdauer entwickeln musste, bevor sie akut gefragt waren. Aber das war ja ohnehin sein Grundcharakter.
Am Ende dafür geradestehen
Dass man die Dinge selber in die Hand nimmt, selber dafür aufsteht und am Ende auch dafür geradesteht. Und es klingt kein bisschen Eitelkeit oder Didaktik aus dieser Anstrengung, sich selber ans Klavier zu begeben und sich einer kritischen, womöglich hämischen Öffentlichkeit auszusetzen.
Vielleicht waren diese Augenblicke die intimsten, die Helmut Schmidt jemals der Öffentlichkeit gezeigt hat. So sehr hat er der Musik vertraut, dass er in diesem Moment, in Zeiten sehr persönlicher politischer Auseinandersetzungen, sich einmal ganz geöffnet hat. Ein Schelm, wer denkt, er habe gewusst, dass die politischen und sonstigen Gegner in diesem offenen Buch nicht lesen konnten.