Natürlich hat sich Mikael Blomkvist nicht im Stockwerk geirrt, als er die Treppen im Haus Fiskargatan 9 hochstieg. Der investigative Starjournalist ist müde geworden und er macht sich Sorgen um seine - vielgehasste, mit allen Mitteln gesuchte - Kampfgefährtin. Die Wohnungstür steht offen, zwei Möbelpacker bugsieren ein blaues Sofa in die Wohnung. Es ist die Adresse von Lisbeth Salander, und dieses Sofa passt ganz gewiss nicht zu ihr und ihrer Lebenseinstellung, auch wenn die einstige psychopathische Fighterin - ein "soziales Ufo" - längst nicht mehr so punkig böse ist wie ursprünglich in den drei Millennium-Romanen von Stieg Larsson. Nach Larssons Tod im Jahr 2004 begann David Lagercrantz die Romane um das Team Blomkvist/Salander zu schreiben, und Lisbeth wurde durchaus bürgerlicher, übernahm nun immer mehr Verantwortung. "Vernichtung" ist der dritte Millennium-Roman von Lagercrantz, damit will er es genug sein lassen - auch wenn die Larsson-Erben, der Vater und der Bruder, gerade über einen neuen Verlag und weitere Romane spekulieren.
Lisbeth ist ausgezogen aus ihrer Wohnung, ohne Nachricht und ohne eine Spur zu hinterlassen. Die neue Bewohnerin ist Psychologin und Unternehmensberaterin, Lisbeth hat sie als Nachmieterin durchgedrückt, weil diese vom gleichen subversiven, rebellischen Geist inspiriert ist wie sie. "In den Medien bin ich hauptsächlich dafür bekannt, mit alten Männern in Aufsichtsräten zu streiten." Eine Tradition ist hier etabliert, ein Netzwerk.
Den Widerstand gegen die patriarchalische Männergesellschaft und die fiese bürgerliche Kultur, die sie sich schuf, hat Stieg Larsson von Anfang an in den Mittelpunkt seiner Millennium-Romane gesetzt, und die Solidarität, die eine Gruppe Einzelkämpfer und Einzelkämpferinnen zusammenführt in diesem Widerstand. Und die Brutalität, mit der die Gesellschaft der alten Männer sich dagegen wehrt.
David Lagercrantz hat diesen Basiskampf globalisiert und über die enge schwedische Gesellschaft hinausgeführt. Lisbeth operiert nun auf fremdem Terrain, in Moskau, wo in diesem Roman die Bösen hocken, die russischen Trollfabriken, die überall durch ihre Intrigen politische und gesellschaftliche Entwicklungen manipulieren, von Tschetschenien bis zum Börsencrash. Aber auch die Schwester, Camilla, die sich nun Kira nennt und enge persönliche Verbindungen hat zu den Trollen. Sie wurde vom kriminellen Vater missbraucht, fühlt sich verraten und im Stich gelassen von der Mutter und von Lisbeth. Ein tiefer Hass bindet die Schwestern aneinander, in dessen Innerem verborgene Mechanismen der Identifikation stecken. Ein erster Versuch, Camilla zu töten, vor einem Nachtclub in Moskau, scheitert, Lisbeth kann einfach nicht abdrücken. Nur eine Botschaft an die Trolle kann sie senden, einen Song: "Killing the world with lies ... Feeding the murderers with hate ... ".
Lisbeth Salander ist der Albtraum der automatisierten Überwachungsgesellschaft
"Ich werde die Katze sein und nicht die Ratte", erklärt Lisbeth ihre Taktik: die anderen zwingen, Fehler zu begehen. Sie kann alle Mittel moderner Kommunikation nutzen, die sozialen und asozialen Medien, sie kennt die neuesten Techniken der Infiltration, hat Kontrolle über Überwachungskameras und Zugriff auf als geheim klassifizierte Datenbänke, hat Zugang zu den dunkelsten Kanälen innerhalb der hacker republic. Auch Mikaels mühsam recherchierte Texte kann sie mit neuen Fakten aufpeppen. Lisbeth Salander ist unsichtbar, aber omnipräsent, eine personifizierte KI, der Albtraum der automatisierten, totalitären Überwachungsgesellschaft. Mit ihr kommt, wie in den endlosen Marvel-Superhelden-Sagas, das dramatische Erzählen, mit seinen Intrigen und seiner Psychologie, an sein Ende.
David Lagercrantz will dieses Ende hinauszögern, durch eine Parallelgeschichte, die den modernen Mythos von Lisbeth Salander mit einem archaischen konfrontiert, einem "Drama griechischen Ausmaßes". Schauplatz ist der Mount Everest, dort hat der Mann, um den es geht, im Mai 2008 bei einem tödlich verlaufenden Aufstieg eine entscheidende Rolle gespielt. Jahre später findet man den Mann in Stockholm, er lehnt an einer Birke im Tantolunden. Ein toter Bettler, sein Körper gezeichnet von ungeheuren Strapazen, einige Finger und Zehen fehlen ihm. In einer blauen Daunenjacke, die viel zu warm ist für den August. Früher hockte er kerzengerade da, stundenlang, "ein bisschen wie ein Indianerhäuptling im Kino". Auch Mikael hat ihn gesehen - aber nie wahrgenommen. Der Satz, um den sein Wahn kreiste, kryptisch wie ein Tweet: "Me took him ... And I left Mamsabiv, terrible, terrible." In seiner Tasche fand man die Telefonnummer von Mikael Blomkvist.
Das erste Buch, das David Lagercrantz veröffentlichte, 1998, hat er zusammen mit dem Bergsteiger Göran Kropp über dessen Aufstieg auf den Everestgeschrieben, ("Allein auf dem Everest"). 2008 ist der Everest "Ziel für Reiche geworden, die ihr Ego ausleben wollten", ein "Relikt aus der Kolonialzeit". In das Geschehen am Gipfel verwickelt sind Johannes Forsell, nun Verteidigungsminister, durch eine Verleumdungskampagne fast zum Selbstmordversuch getrieben, eine junge Frau, Clara, und ihr Mann, ein amerikanischer krimineller, narzisstischer Immobilienspekulant, der in den Neunzigern begann, in Moskau Hotels zu bauen. Das klassische Stieg-Larsson-Personal. Von David Lagercrantz kommt die größte denkbare Einsamkeit hinzu, die schrecklichste Verzweiflung, die am Berg erfahren wird. Die sie überlebten, tragen für immer die Last der Schuld mit sich.
David Lagercrantz : Vernichtung. Roman. Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann. Heyne Verlag, München 2019. 429 Seiten, 22 Euro.