Zunächst einmal ist ein Verlust zu beklagen: Es geht um ein Gemälde von Vermeer van Delft. Und tragisch ist das nicht nur deshalb, weil es von Vermeer ja nur noch 37 Bilder gibt auf dieser Welt. Tragisch ist das auch, weil es schon wieder die Dresdner Gemäldegalerie trifft, die in einem ganz anders gelagerten, in gewisser Weise trotzdem verwandten Fall schon einmal ein berühmtes Gemälde von Holbein d. J. verloren hat. Der "Dresdner Holbeinstreit" ist in diesen Tagen zwar exakt 150 Jahre her, Nachwirkungen hat er aber bis heute. Denn seitdem gilt, dass nicht nur von Belang ist, was man auf einem Gemälde sieht, sondern noch mehr das, was unter der Farbe verborgen liegt. Nur zur Erinnerung: Von Holbeins "Madonna des Bürgermeisters Meyer" gab es sowohl in Dresden als auch in Darmstadt eine Version, und eine war prachtvoller als die andere. Anfang September 1871 kam es zur Gegenüberstellung, und die Experten entschieden anhand stilistischer Kriterien, dass die Darmstädter das Original hatten, die Dresdner eine Kopie. Später, als die Röntgentechnik erfunden war, bestätigte sich, dass beim Original verworfene Varianten unter der Oberfläche lagen. Die Kopie zeigte dagegen nur den finalen Zustand, verlor darauf den Nimbus eines nördlichen Gegenstücks zu Raffaels Sixtinischer Madonna und hängt seitdem - als Fälschung von der Hand des Barockmalers Bartholomäus Sarburgh identifiziert - etwas verschämt im Abseits.
Von Vermeer gab es nun in Dresden bis vor Kurzem ein wundervoll stilles Gemälde mit dem Titel "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster". Seit dieses Gemälde Ende der Siebzigerjahre ebenfalls einmal unter ein Röntgengerät gelegt worden war, vergaß das museumspädagogische Personal nur selten die Bemerkung, dass oberhalb der Schulter des Mädchens die Abbildung eines später wieder übermalten Liebesgottes gefunden worden sei, man somit also wisse, wovon der Brief des Mädchens handele. Damit war nun nicht nur gesagt, dass dies sehr sicher ein Original von Vermeer war, sondern auch was dieser Vermeer für ein feiner und sensibler Mensch gewesen sein muss, wenn er die Geschwätzigkeit seines innerbildlichen Kommentars selbst bemerkt und diesen Irrtum glücklicherweise wieder korrigiert hatte. Dass ihr Brief schon nicht vom Finanzamt gewesen sein wird, das sahen diesem lesenden Mädchen schließlich selbst Schulkinder auch so sofort an. Meist folgte an dieser Stelle daher Geschmunzel, und dann ging es weiter mit der Führung zu all den holländischen Kleinmeistern, die ebenfalls gern illusionistisch zur Seite geschobene Vorhänge vor ihre häuslichen Szenen gemalt hatten. (So ließ sich, jedenfalls mit Schulkindern, auch gut der andere Vermeer in der Sammlung umgehen, eine nicht ganz so jugendfreie Bordellszene mit dem Titel "Bei der Kupplerin".)
Die Korrektur der Korrektur gibt dem Bild etwas Albtraumhaftes
Damit ist es nun vorbei. Denn 2017 kam man bei einer Restaurierung zu dem Schluss, dass die Übermalung des Bilds im Bild erst nach Vermeer von fremder Hand erfolgt sein musste. Das wiederum führte zur Korrektur der Korrektur. Daher steht der zarten Briefleserin jetzt ein bauchiges Riesenbaby auf der Schulter und gibt ihrem Bild etwas entschieden Albtraumhaftes. Man hat herausgefunden, dass es eher ein "Cupido" ist als ein "Amor", es also um durchaus körperliche Liebe geht, nicht nur platonische. Und man kann mit Emblem-Büchern aus Vermeers Zeit auch die Bedeutung der Masken belegen, die der Cupido auf dem Bild zertrampelt: Gemeint sind die Techniken der Täuschung, um in solchen Liebesdingen zum erwünschten Ziel zu kommen. Auch der eigentliche Schöpfer dieses Cupidos wurde ermittelt, es war wohl Caesar van Everdingen, denn ein "Cupido" von seiner Hand gehörte Vermeers Schwiegermutter, und Vermeer hat ihn unter anderem auch in "Junge Dame am Virginal stehend", heute in London, im Hintergrund zitiert. Es gibt sogar einen Verdacht, wer für die spätere Übermalung im "Brieflesenden Mädchen" verantwortlich sein könnte: In Dresden haben sie den Belgier Jean-Baptiste Slodtz im Visier, weil der auf eine Stelle am sächsischen Hof spekulierte, dem das Bild von seinen Kunstagenten aus Paris als ein Werk von Rembrandt angetragen wurde. Das hatte gute Gründe, denn Vermeer war im 18. Jahrhundert außerhalb Hollands kein Begriff mehr, Rembrandt hingegen war verehrt und begehrt. Rembrandt hätte aber eben ziemlich sicher nicht so ein etwas penetrantes Barockemblem als Kommentar in sein Bild gemalt.
Der Ruhm des Gemäldes verdankte sich nicht zuletzt der rätselhaft leeren Wandfläche
Das sah man als Qualitätsmakel offenbar schon damals so und hat es entsprechend "berichtigt", was für die weitere Karriere des Gemäldes zumindest nicht unwesentlich war. So landete es immerhin in den kurfürstlichen Privatgemächern, aber eben als Rembrandt, ohne Cupido. Selbst wenn sie nicht der Verwandlung in einen angeblichen Rembrandt gedient hätte, wäre diese Korrektur von mindestens dem Wert, den die Arbeit eines guten Lektors am Manuskript eines Autors hat, der seine Tinte nicht halten kann. Der Ruhm von Vermeers Gemälde verdankte sich ja nicht zuletzt der rätselhaft leeren Wandfläche, die das brieflesende Mädchen mit geradezu existenzieller Wucht nach links unten aus der Bildmitte drückte.
Ob die Faszination für diese "Offenheit" des Gemäldes nicht eher ein Wunschdenken der Moderne gewesen sei, wird in Dresden nun rhetorisch gefragt, um die offensichtlich auch intern nicht unumstrittene Freilegung zu rechtfertigen. Die korrekte Antwort müsste eigentlich lauten: nur dann, wenn man die Moderne bereits kurz nach Vermeers Lebzeiten beginnen lässt. Die Entscheidung zugunsten einer "ursprünglichen Intention" des Künstlers ist zwangsläufig eine gegen das überlieferte Gemälde mit all den Sedimenten seiner Rezeptionsgeschichte und hat natürlich etwas von dem immer ein wenig einfältigen Eifer derer, die etwa auch Bachs Kompositionen nur auf den Instrumenten seiner eigenen Epoche dulden, so als verdanke der sein musikalisches Überleben nicht wesentlich auch der Romantik.
Der große Vermeer zeigt sich hier auf einmal als ein klitzekleines bisschen weniger subtil, als immer alle dachten
Aber nun war - auch unter Berufung auf solche Originalklangfetischisten - in Dresden eben die Entscheidung gefallen, Vermeers Originalzustand wieder freizulegen. Und jetzt kann man im Ergebnis immerhin konstatieren, dass das Zitieren eines etwas weniger guten Malers durch einen guten Maler auch aus einem guten Bild ein etwas weniger gutes machen kann. Der steifbeinige Liebesgott bringt die Komposition aus seinem interessanten Ungleichgewicht in eine ausgewogene, aber eben auch etwas langweilige Balance und macht es vor allem inhaltlich flacher, als es vorher war. Der große Vermeer zeigt sich mit anderen Worten hier auf einmal als ein klitzekleines bisschen weniger subtil, als immer alle dachten. Gott sei Dank - muss man aber dazusagen. Denn sonst wären der Trickreichtum und die abgründige Schönheit seiner Malerei auch kaum auszuhalten.
Damit endlich zum großen Andererseits:
Andererseits ist nämlich ein beglückender Gewinn zu verkünden. Erstens gibt es da jetzt also ein quasi neu entdecktes Gemälde von Vermeer, jedenfalls eins, das man so seit etlichen Jahrhunderten nicht mehr gesehen hat und in das man sich erst einschauen muss. Zweitens haben sie zur Feier dieses neuen Vermeers in der Dresdner Gemäldegalerie eine Sonderausstellung eingerichtet, wie man sie ebenfalls so schnell nicht wieder zu sehen bekommen wird. Nicht weniger als zehn Gemälde von Vermeer haben sie versammeln können, nahezu ein Drittel des weltweiten Gesamtbestandes; so etwas ist natürlich ein Generationen-Ereignis, das lange Schlangen vor dem Semper-Bau der Galerie garantiert. Was man da nach der Eröffnung im Beisein von Bundeskanzlerin und niederländischem Ministerpräsidenten nun für rund vier Monate zu sehen bekommt, ist aber auch wirklich betörend. Das ist es übrigens ausdrücklich nicht nur wegen Vermeers spektakulären Malmanövern, Raumkonstruktionen und Fokus-Unschärfe-Spielchen. Das ist es auch nicht nur wegen der sonderbar modernen Anmutung vieler seiner selbstversunken vor sich hin sinnenden, musizierenden oder eben lesenden Frauen, obwohl im Winter eine Zusatzschau zeigen soll, wo Edward Hopper dergleichen herhatte.
Entscheidend ist hier auch, dass anhand vieler von Vermeers Zeitgenossen zentralen Motiven nachgegangen wird, die in seiner "Briefleserin" zusammenfließen: Neben geschlechtlichen Beziehungen und Liebesgöttern als Bild im Bild sind das Spiegelungen, Perserteppiche, die als Tischdecken dienen - und nicht zuletzt das Lesen von Briefen durch Frauen, was durchaus viel mit der bildlichen Abwesenheit von Männern und der Sozialgeschichte einer Seehandelsnation zu tun haben dürfte. An dem, was in diesen Briefen steht, hängen im Zweifel nicht nur Herzen, sondern Existenzen. Nachdem ausgerechnet Vermeer neulich in Amsterdam schon zum Propagandisten queerer Thematiken ausgerufen wurde, erweist er sich hier jedenfalls eher als straighter Vertreter dessen, was man als doch recht heteronormative Bürgerstücke bezeichnen könnte. Aber die Dresdner Entscheidung zur Wiederverortung von Vermeers Werk in seiner eigenen Zeit entzieht ihn nun einmal tendenziell vielen Zugriffsbedürfnissen seiner Nachwelt.
Für die hatte aber immerhin die Restauratorin Sabine Bendfeldt vor Jahren schon das geleistet, was Sarburgh mit dem Holbein getan hatte: Sie hatte eine sehr getreue Kopie des "Brieflesenden Mädchens" gemalt, alter Zustand, ohne Cupido. Die Gemäldegalerie sollte am besten auch die jetzt ankaufen, behalten und so lange danebenhängen, bis der neue ursprüngliche Vermeer vielleicht doch noch überzeugender geworden ist als der ursprüngliche alte.
"Vermeer. Vom Innehalten", Gemäldegalerie Dresden , bis zum 2. Januar 2022.