Verleihung der Lead Awards 2007:"Dieses Land ist absoluter Scheiß"

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Im Tal der Lächerlichkeit: Bei den Lead Awards preist man Produkte als neue Fetische - und "Tierbaby" Jonathan Meese erntet Applaus für die Erkenntnis, dass in Deutschland "Scheiß an jeder Ecke" geboten werde.

Till Briegleb

Was ist das für eine Medienwelt, in welcher der Vorsitzende einer Jury, die den besten Beitrag im Internet 2006 prämieren soll, ein Amateur-Video für bemerkenswert hält, in dem eine Frau ihren Hund so lange mit "Platz!" anschreit, bis der schlecht animiert "platzt"? In der die Chefin von Wikipedia, der mächtigen Online-Enzyklopädie zum Mitmachen, eingesteht, dass das Design der Seite "grauenhaft" sei, das Unternehmen sich aber keine Gestalter leisten kann?

Und in der schließlich der Art-Director eines prämierten Wirtschaftsmagazins sein Design über eine Stunde als "quasi" wissenschaftlich und philosophisch selbstlobt? Es ist eine Quasi-Welt, in der eins quasi unerwähnt bleibt: Die Frage nach der Qualität

Das begleitende Symposium zur Verleihung der Lead-Awards 2007 in den Hamburger Deichtorhallen könnte zwar nominell genau das richtige Forum sein. Das jährliche Branchentreffen, auf dem sich Medien- und Werbeprofis gegenseitig für Leistungen des vergangenen Jahres auszeichnen, die "kulturell, gesellschaftlich und ökonomisch prägend waren", ist aber doch mehr eine journalistische Modenshow mit angeschlossener Kontaktbörse.

Neuer Trend: Kundenspionage

Und von entsprechender Flüchtigkeit sind die Fachbeiträge vor Hunderten von argwöhnischen Kollegen und Geschäftspartnern. Um nicht über Inhalte und Selbstverantwortung zu reden, spricht man über Trends.

Zum Beispiel Paul Mudter, Geschäftsführer der Telekom-Tochter für Internet-Vermarktung Interactive Media CCSP, der neue Strategien für die Online-Werbung referiert: Unter dem Schlagwort "Engagement-Marketing" fordert er so genannte "dialogbasierte Marketingmaßnahmen", die "produktaffine Themen besetzen und den User zum Mitmachen animiere" - womit nichts anderes gemeint ist, als dass das Internet den Unternehmen die Möglichkeiten gibt, den Kunden auszuspionieren.

Nach solch verbal verschleierten Kontrollphantasien sind englischsprachige Beiträge schon allein deswegen eine Erholung, weil diese nicht mit Anglizismen wie "Ingame-Advertising" (in Computerspiele geschmuggelte Produktwerbung) das Sprachgefühl beleidigen können. Rebecca Swift, Kreativ-Direktorin der weltgrößten Bildagentur Getty Pictures, will aber auch nichts über die Bedeutung der zeitgenössischen Bildsprache sagen, als vielmehr Trendwechsel in den Werbeagenturen aufzeigen.

Etwa vom Gruppenzwang Ende der Neunziger, den Mensch als allzeit erreichbares Wesen mit großem Technikpark darzustellen, hin zu einer Yoga-Symbolik nur wenige Jahre später, mit der sich völlig technikfrei Fluggesellschaften wie Immobilen-Fonds vermarkten lassen.

Zwischen Soft-Porno und Kunst

Weitere Trends, die unter dem Symposiums-Titel "Creative Research - Strategien zur Ideenfindung - Die besten Methoden für neue Inspiratio"" von der Tribüne aus verkündet wurden: Das Ende des Schnappschusses in der Werbung, aber gleichzeitig die Rückkehr zur Authentizität. Der Kunde steht wieder im Mittelpunkt, aber ebenso der Kinostar als Werbeträger.

Kunst ist der große Ideenbringer der Werbung und Gestaltung, aber das gilt auch für den Soft-Porno. Schließlich ist die "Internet-Community" des Webs 2.0 der neue Liebling der Medien, die aber parallel dazu den "Solo-Chic" entdeckt haben. Im Meta-Trend bedeutet das: Der Trend ist quasi eine Schutzbehauptung, um das Fehlen von Trends quasi zu verdrängen.

Einzig bei zwei Entwicklungen sind sich die vortragenden Kreativen einig, und beide sind relativ lange vorhanden und diskutiert worden: Die Alten werden für Medien und Werbung eine immer bedeutendere Zielgruppe, und das "Self-Publishing", also die Beteiligung der Menschen an den Medien durch selbst erstellte Beiträge im Internet, entwickelt sich zur Macht.

Das Produkt als Fetisch

Beispiele wie die erfolgreichen Selbstverwirklichungs-Plattformen YouTube, MySpace, Second World oder flickr, die allein dadurch expandieren, dass Millionen meist junger Menschen hier ihre eigenen Beiträge präsentieren, sich eine virtuelle Welt bauen oder Kontakt suchen, haben Werber wie Blattmacher aufgeschreckt.

Lösungsangebote sind aber so widersprüchlich wie Trendaussagen. Wikipedia-Chefin Florence Devouard verlangt nach der "neutralen Plattform" ohne Werbung, auf der die Menschen im freien Dialog zu ernsthaften Ergebnissen kommen können, muss aber zugeben, dass auch das kostenlose Weltlexikon mit sechs Millionen Artikeln in 250 Sprachen dieses Jahr fünf bis sechs Millionen Dollar Unterhalt kostet, die irgendwie verdient werden wollen.

Branchenliebling Mike Meiré, der mit Kunst-Werbung für den Armaturenhersteller Dornbracht und das Layout von "Brand eins" berühmt wurde, will "New Age salonfähig machen" und träumt von einer "Ritual-Architektur" des Marketings, in der "wir Kontexte schaffen, in denen die Produkte Fetische werden für die Welt des Konsumenten".

Und Trendforscher Peter Wippermann, Vorstandsmitglied der ausrichtenden Lead-Academy für Mediendesign und Medienmarketing, sieht eine Art von Demokratisierung der Medien im Entstehen, bei der die aktive Haltung des Konsumenten die alte Sender-Empfänger-Einbahnstraße öffnet. Was in diesen Internet-Angeboten eigentlich publiziert wird und welche Form von gesellschaftlichem Bewusstsein dabei entsteht, war keinem der Redner auch nur einen Quasi-Satz wert.

"An jeder Ecke wird einem Scheiße angeboten"

Bei soviel Trend erfasste den menschlichen Geist doch irgendwann die Sehnsucht nach der Ernsthaftigkeit des Koran oder dem Auftritt eines Pausen-Clowns. Den gab an diesem langen Tag der Hamburger Künstler Jonathan Meese. Der selbst ernannte Prophet einer metaphysischen Kunst-Revolution, die in fünf Jahren in Deutschland stattfinden werde, ist in seiner parolenstarken Sprache eine lustig sprudelnde Quelle für Schlagzeilen und Werbe-Slogans.

Während er stetig auf den Zehenspitzen wippt und begründet, warum er als "Tierbaby" das "Recht" habe, eine Revolution zu fordern, sagt der verschrobene, langhaarige Erfolgskünstler einen dankbar aufgenommenen Markensatz nach dem anderen: "Der Kristall muss in der Zukunft leuchten" etwa, oder: "Wir haben die Pflicht, durch das Tal der Lächerlichkeit zu gehen!". Den größten Applaus erntete Meese aber, als er erklärte: "Dieses Land ist absoluter Scheiß. An jeder Ecke wird einem Scheiße angeboten".

Der Beifall der Journalisten und Werber im Saal könnte nun entweder Ausdruck von Unbehagen über das eigene Tun oder eine freudige neue Selbstverpflichtung auf Qualität sein. Wahrscheinlich ist es eine Quasi-Haltung irgendwo dazwischen.

© SZ vom 5.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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