Vergangenheitsbewältigung:Keine Schande

Vergangenheitsbewältigung: Von einem Überdruss an Vergangenheitsbewältigung ist wenig zu spüren: Das Holocaust-Denkmal in Berlin zieht Menschen aus dem In- und Ausland an.

Von einem Überdruss an Vergangenheitsbewältigung ist wenig zu spüren: Das Holocaust-Denkmal in Berlin zieht Menschen aus dem In- und Ausland an.

(Foto: Joerg Carstensen/AP)

Die Erinnerungskultur ist das Beste, was Deutschland passieren konnte. Das zeigt die Geschichte des Berliner Mahnmals für die ermordeten Juden. Ausgerechnet die Rede eines AfD-Politikers führt das jetzt vor Augen.

Von Kia Vahland

Sie wirkt im ersten Moment merkwürdig surreal, die auf Youtube dokumentierte Dresdner Rede des AfD-Politikers und Geschichtslehrers Björn Höcke. Seine Rhetorik klingt scheppernd wie aus den Dreißigerjahren. Den "vollständigen Sieg" werde die AfD erringen, darauf werden "Patrioten" eingeschworen, und es wird viel gejammert, wie ungerecht die Welt doch sei gegenüber den Deutschen. Von "Schande" ist die Rede, und nein, im Kontext der Rede ist das nicht so zu verstehen, als gäbe es besonderen Grund, sich zu schämen für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Das Ganze klingt, als habe ein braver Schüler die Worthülsen der Radikalisierung aus der späten Weimarer Republik auswendiggelernt. Was damals die angebliche Schmach des Vertrages von Versailles war, der verlorene Erste Weltkrieg, soll nun das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sein: "Bis jetzt ist unsere Geistesverfassung, unser Gemütszustand immer noch der eines total besiegten Volkes." Jetzt aber gebe es die "Bewegungspartei" AfD, sie gehe gegen die "dämliche Bewältigungspolitik" vor. Die Rede kulminiert in der Forderung, die deutsche Erinnerungskultur müsse sich "um 180 Grad" wenden, der NS-Geschichtsunterricht in den Schulen gehöre abgeschafft und vor allem müsse das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas weg.

Demokratie, Pluralismus und Wohlstand verdanken sich der Fähigkeit zum Gedenken

Da reibt sich der Zuschauer, die Zuschauerin dann doch erst einmal die Augen: Wie bitte, das wollen Populisten sein? Leute, die vor allem eines anstreben: eine Touristenattraktion verbieten? Eines der beliebtesten Berliner Museen, das 500 000 Menschen im Jahr in ein Infozentrum zum Thema Nationalsozialismus lockt und die vielfache Anzahl von Menschen dazu bringt, im angegliederten Stelenfeld der jüdischen Opfer zu gedenken? Wen bitte stört denn das - haben die Wähler nicht andere Sorgen, fürchten sie nicht viel eher sozialen Abstieg, Rentenlücken, unsichere Arbeitsplätze, Kriminalität als eine ästhetisch gelungene Gedenkstätte, einen zentralen Ort des Innehaltens und Trauerns? Da könnte man ja gleich fordern, das Brandenburger Tor zu pulverisieren oder die Wartburg zu schleifen, wenn nun Politiker die Geschichte des Landes nicht mehr aushalten. Man könnte stattdessen auch den Berliner Regen gesetzlich verbieten, Beerdigungen untersagen und alles weitere abschaffen, was irgendwie unangenehme Gefühle auszulösen vermag.

Es dauert ein paar Minuten, bis man sich angesichts der Rede von Höcke dann wieder erinnert: Richtig, da war doch noch mehr. Das Berliner Denkmal war nicht immer so selbstverständlicher Teil der Republik, wie es das heute ist. Höcke ahmt ja gar nicht nur die krächzenden Redenschwinger aus dem Nationalsozialismus nach, er zitiert auch recht präzise aus einem zutiefst bundesrepublikanischen Diskurs. Mehr als anderthalb Jahrzehnte lang stritten die gerade wiedervereinigten Deutschen über das Mahnmal, bevor es im Mai 2005 eröffnet wurde. Diskutiert wurde nicht nur, wie die Berliner Republik sich angemessen an die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg erinnern könne. Es ging auch darum, ob sie das überhaupt noch tun solle. Tiefpunkt dieser Debatte war die Rede des Schriftstellers Martin Walser in der Paulskirche 1998. Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels sagte über die damalige Diskussion um das Holocaustdenkmal, hier könne "die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichteten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlten. Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Albtraum. Die Monumentalisierung der Schande."

Das stieß auf Protest, der Germanist Jan Phillipp Reemtsma analysierte damals Walsers "Rhetorik der Anspielungen" als Versuch eines "beleidigten Nationalisten", zurückzukehren zu einer "Normalität", die es nie gegeben habe. Dem stimmte der Publizist Josef Joffe in der Süddeutschen Zeitung zu und erklärte das rituelle NS-Gedenken zum notwendigen Exorzismus: "Wir erinnern uns an den Horror und zelebrieren so dessen Überwindung." Der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein dagegen unterstützte Walser mit den Worten, das neue Mahnmal in Berlin solle "an unsere fortwährende Schande erinnern. Anderen Nationen wäre ein solcher Umgang mit ihrer Vergangenheit fremd. Man ahnt, daß dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist. Man wird es aber nicht wagen, so sehr die Muskeln auch schwellen, mit Rücksicht auf die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand, die Mitte Berlins freizuhalten von solch einer Monstrosität."

Björn Höcke kannte diese ressentimentgeladenen Aussagen Walsers und Augsteins und nutzte sie nach seiner Rede, um seinen Antisemitismus zu normalisieren und ihm einen vermeintlich intellektuellen Anstrich zu geben. Erstens aber war Walsers Paulskirchenrede auch 1998 schon nicht mehr politischer Konsens - das Denkmal wurde ja errichtet, beteiligt waren mit Helmut Kohl und Gerhard Schröder zwei Bundeskanzler, die sich dazu auch erst durchringen mussten. Zweitens kamen Walser und Augstein in den Zwanzigern zur Welt, sie gehörten also der im Nationalsozialismus erzogenen Generation an, die damit zu tun hatte, ihre eigene Zeitgenossenschaft zu verstehen. Sie wünschten sich im Jahr 1998 die NS-Zeit nicht zurück. Genau in diesem Punkt aber kann man sich bei dem 1972 geborenen Höcke noch nicht sicher sein.

Eine Nation findet sich nicht im Verdrängen, sondern im Selbstzweifel

Vor ein bis zwei Jahrzehnten redeten einige Schriftsteller und Publizisten tatsächlich noch so, wie es heute nur noch Rechtsextreme tun. Auch etliche Bundestagsabgeordnete und der Berliner Bürgermeister trauten dem im Entstehen begriffenen Mahnmal nicht. Vieles, was damals gegen eine weitere Aufarbeitung der NS-Verbrechen gesagt wurde, wäre heute für Christ- und Sozialdemokraten, für Grüne und Christsoziale undenkbar - etwa die Entrüstung, welche die Wehrmachtsausstellung in den späten Neunzigerjahren noch auslösen konnte, weil sie die Gräueltaten von Soldaten benannte. Oder die Häme, die der Philosoph Peter Sloterdijk 1999 seinem um Vergangenheitsbewältigung ringenden Kollegen Jürgen Habermas entgegenschleuderte: "Die Ära der hypermoralischen Söhne von nationalsozialistischen Vätern läuft zeitbedingt aus". Mit der "traumabedingten Retrospektivität der Nachkriegskinder" müsse es nun einmal vorbei sein, so Sloterdijk.

Beinahe könnte man Höcke dankbar sein, daran zu erinnern, wie wenig selbstverständlich unser heutiger, vergleichsweise entspannter Umgang mit dem NS-Gedenken ist und wie sehr dieser all die Walsers, Augsteins, Sloterdijks Lügen straft. Sie konnten einfach nicht denken, dass das nie Dagewesene möglich wäre: Eine Nation findet sich nicht im Heroischen, im Vergessen und Verdrängen, sondern im Selbstzweifel, in der permanenten Erinnerung an ihr größtes Versagen als Kollektiv wie als Individuen. Das Eingeständnis der Schuld, das Entsetzen und die Trauer führen nicht ins Abseits, sondern im Gegenteil, sie machen das Land plötzlich liebens- und begehrenswert.

500 000 Besucher

kommen im Jahr in das Dokumentationszentrum beim Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Info: www.stiftung-denkmal.de). Das Mahnmal selbst ist frei zugänglich, deswegen gibt es dazu keine statistische Erhebung. Die Einrichtung gehört zu den zehn beliebtesten Museen in der Hauptstadt. Die Erfahrung, dass Aufklärungsorte zum Nationalsozialismus viel besucht werden, machen auch andere Einrichtungen, etwa das Dokumentationszentrum am Obersalzberg, wo Adolf Hitler residierte.

Sehr vieles, was das Deutschland der Gegenwart ausmacht, verdankt sich direkt oder indirekt der Fähigkeit zum steten Nachdenken über den Nationalsozialismus. Die Wiedervereinigung mitten in Europa wäre nie zustande gekommen, würden die Deutschen sich mehrheitlich als Kriegsverlierer fühlen, die nach Rache sinnen. Deutschland wäre kaum dauerhaft Exportweltmeister, würde das Land immer noch Anlass zu internationalem Misstrauen geben (wirtschaftsschädigend sind indes rassistische Ausschreitungen und die Pegida-Bewegung etwa in Dresden). Dass die Deutschen im Gegensatz zu den Franzosen nicht fürchten müssen, Ende 2017 eine rechtsextreme Regierungschefin zu haben, verdanken sie dem komplizierten Verhältniswahlrecht, das sie sich aus Furcht vor einem neuen Faschismus einmal gegeben haben, wie auch das föderale System.

Der Mut zum Eingeständnis hat aus dem Land einen globalen Sehnsuchtsort gemacht

Und ihre sozialstaatlichen Strukturen und die Tarifverträge entspringen der Einsicht, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihre Kräfte ausbalancieren müssen, um, anders als in der Weimarer Republik, den sozialen Frieden zu sichern. Dass Kinder nicht mehr verprügelt werden dürfen und Ehefrauen nicht mehr vergewaltigt, kommt aus dem Wissen um die autoritären Familienstrukturen, die einst den Nationalsozialismus anfeuerten. Auch die Ökologiebewegung hätte ohne eine gewisse Schuldfähigkeit nie entstehen können: Sie entspringt der Einsicht, dass ein jeder für seine Taten, auch die alltäglichen, verantwortlich ist.

Die Demokratie und Meinungsfreiheit, der Wohlstand, die Weltgewandtheit, sogar die Qualität persönlicher Beziehungen, die Fähigkeit zum offenen Gespräch über Belastendes, all das gäbe es wohl nicht ohne eine NS-Gedenkkultur, welche die Wunden kennt und zeigt. Das war so nicht planbar. Im Ergebnis aber ist es der Mut zum Eingeständnis, der aus dem Land einen globalen Sehnsuchtsort gemacht hat. Attraktiv sind eben nicht die neuen Jammerlappen, die sich als Opfer stilisieren und in ihrem gekränkten Männlichkeitswahn von Vergeltung für eingebildete Niederlagen träumen. Anziehend ist, wer die eigene Geschichte annimmt und darin seinen persönlichen und politischen Handlungsspielraum findet.

Rätselhaft bleibt nur eines. Wieso ist der Umgang mit dieser Erfolgsgeschichte manchmal so defensiv, kommt eher pflichtschuldig daher als selbstbewusst? Wieso stützen Angela Merkel und Horst Seehofer ihre Wahlkämpfe nicht auf diese erst in den vergangenen zehn Jahren selbstverständlich gewordene deutsche Identität? Erinnerungspolitik ist heute keine Vorwurfskultur mehr; sie dient nicht mehr nur der Abwehr, sondern auch dem immer wieder neuen Finden der eigenen Position. Man sollte es nicht den Höckes überlassen, daraus eine große Erzählung zu machen. Sondern sich bekennen zu dem, was man hat und ist.

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