Jugendroman:Ein Blick wie ein Schnappmesser

Meg Rosoff erzählt über die Verführungskraft eines Blenders, der in der befreundeten Familie auftaucht und die Sommeridylle zerstört.

Von Antje Weber

Es gibt Menschen, die scheinen besonders intensiv zu leuchten. Kit Godden ist so jemand: strahlende Haut, dickes, braunes Haar mit hellen Strähnen, goldgesprenkelte Augen - der schöne und charismatische junge Mann verkörpert eine "goldene griechische Statue der Jugend". Die Ich-Erzählerin in Meg Rosoffs Roman "Sommernachtserwachen" ist entsprechend hingerissen: Bereits der erste Blick aus diesen Augen gleitet ihr "wie ein Schnappmesser zwischen die Rippen".

Dass das Messer zuschnappen wird, ist in diesem erotisch knisternden Roman nur eine Frage der Zeit. Dass er während eines Sommerurlaubs spielt, passt natürlich bestens. Die Ferienstimmung einer sympathischen britischen Großfamilie, die wie jedes Jahr am Meer weilt, erhält durch den überraschenden Besuch des Glamour-Boys aus den USA plötzlich einen Stromstoß. Und leider nicht nur einen - denn die Ich-Erzählerin ist nicht die einzige der Familie, bei der Kit sofort spürbar "Verlangen und Lust" entfacht: "Das Dumme war nur, dass alle anderen es auch spürten. Allen anderen ging es wie mir." Es folgt, man ahnt es, jede Menge Verwicklungen bis hin zu größeren Turbulenzen, die Rosoff in einer Hommage an Shakespeares "Sommernachtstraum" - geradezu genüsslich zelebriert. Denn die Ich-Erzählerin, älteste Tochter der Familie, muss als vermeintlich spröde und desinteressierte Beobachterin zunächst der jüngeren Schwester den Vortritt lassen: Die 16-jährige Mattie, deren Verstand sich nach Einschätzung der Schwester "hauptsächlich mit Sex und Schuhen beschäftigt", verfällt dem Charmebolzen Kit sofort.

Dieses Buch beginnt als Liebesgeschichte. Und es endet als Lehrstück über Blender

Doch ein notorischer Menschenfänger wie er möchte auch Früchte ernten, die nicht überreif vom Baum fallen, und versucht sein Glück bald auch bei der Erzählerin und anderen Mitgliedern der Familie. Am Ende reist er wieder ab - und hinterlässt neben einer geplatzten Hochzeit einen Scherbenhaufen menschlicher der Gefühle.

Dieses Buch beginnt als Liebesgeschichte. Und es endet als Lehrstück über Blender; darüber, dass nicht alle einnehmend schönen und charmanten Menschen das halten, was der erste Eindruck verspricht. Und darüber, wie schwer bis unmöglich es ist, insbesondere als unbedarfter Teenager der sexuellen Anziehungskraft eines gewieften Verführers zu widerstehen. Meg Rosoff ist klug genug, keine platten Botschaften senden zu wollen, sie löst die Ambivalenz solcher Erlebnisse nicht bis ins Letzte auf. Und stärkt doch die Menschenkenntnis der Leserinnen: Der nächste eindeutige Blick wird sie womöglich wieder wie ein Schnappmesser treffen. Doch vielleicht hat er nicht mehr die Kraft, so tief zu verletzen.

Meg Rosoff: Sommernachtserwachen. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Fischer 2021. 255 Seiten, 15 Euro[.

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