Verfassungsrecht:Die Truthähne und ihre auswärtigen Angelegenheiten

Das Brexit-Referendum ist zwei Monate her - und immer noch ist umstritten, wer den EU-Austritt in Gang bringen darf: Die Regierung in London oder das Parlament?

Von Andreas Zielcke

Zu den vielen kreativen Redensarten der englischen Sprache gehört die Metapher "like turkeys voting for Christmas": wie Truthähne, die für Weihnachten stimmen. Kein Wunder, dass Gegner des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union das treffliche Sprachbild auf den desaströsen Ausstiegswunsch der Befürworter münzten. Jetzt aber, zwei Monate nach dem Brexit-Referendum, weichen Triumph und Fassungslosigkeit allmählich einer nüchternen Betrachtung, und keiner kann im Königreich und in der EU wollen, dass es dem britischen Truthahn an den Kragen geht. Die Kunst und Paradoxie des Scheidungsverfahrens wird sein, mit der Trennung zugleich der tiefen Verbundenheit von Großbritannien und Kontinentaleuropa Gestalt zu geben.

Vor allen politischen Lösungen, die es hierfür zu finden gilt, müssen allerdings die rechtlichen Bedingungen des Ausstiegs erfüllt sein. Das Dümmste wäre ja, wenn im Laufe fortgeschrittener Brexitverhandlungen ein Gericht feststellen sollte, dass die Kündigung rechtlich unwirksam ist. So wie sich politisch Verantwortliche auf der Insel bisher einlassen, scheint man diese Gefahr jedoch auf die leichte Schulter zu nehmen. Ihre Unterstellung, dass es allein der Regierung zustehe, den Ausstiegsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags zu stellen, ist frappierend unbeirrt, aber deshalb noch lange nicht zutreffend.

Die von Premierministerin Theresa May ausgegebene Parole "Brexit means Brexit" kann, wie jede Tautologie, mit beliebiger Bedeutung aufgeladen werden. In einem minimalen Sinn meint sie wohl, dass das Ergebnis des Referendums irreversibel und der Ausstieg in Gang zu setzen sei. Immerhin aber glaubt das House of Lords, das Oberhaus, hier eine Hintertür entdeckt zu haben: Könnte das Land seinen Austrittsantrag nicht jederzeit vor dem Abschluss des Verfahrens zurücknehmen?

Die Lords holten sich Rat bei zwei renommierten Juristen, Sir David Edward, ehemaliger Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH), und Derrick Wyatt, Professor Emeritus in Oxford. Beide kommen zu dem Schluss, dass die EU ihren Mitgliedstaat nicht zwingen könne, an seiner Kündigung festzuhalten, etwa im Falle eines Regierungswechsels während der Verhandlungsjahre. Natürlich stürzte der Widerruf einer einmal erklärten Kündigung die EU in Verwirrung. Doch Artikel 50 sagt dazu nichts. Und was könnte Brüssel schon tun, wenn London sich zur Kehrtwende entschlösse? Weitere Krisenjahre verlieren, bis der EuGH entscheidet? Oder pragmatisch den verlorenen, aber rückkehrwilligen Sohn wieder in die Arme schließen?

Zurück zur Hauptfrage. Dass der Antrag nach Artikel 50 allein Sache der Regierung sei, folgt für Brexitbefürworter aus der "royal prerogative", dem einst der Krone zustehenden, dann auf den Premierminister übergegangenen Vorrecht der Exekutive. Seit je umfasst dieses Primat die Regelung auswärtiger Angelegenheiten, worunter auch die Mitgliedschaft in der EU falle.

Die Gegenposition pocht darauf, dass die Regierung den Ausstiegsantrag nicht ohne Ermächtigung des Parlaments stellen könne. Da das Referendum vom 23. Juni unbestritten weder die Regierung noch das Parlament bindet, kommt es also allein darauf an, welche der beiden Gewalten legitimiert ist, den Brexit offiziell auszulösen.

Zur Rettung der Souveränität des Parlaments das Parlament übergehen - was für eine Lösung!

Bleibt die Streitfrage ungelöst, sehen Beobachter Großbritannien in eine Verfassungskrise geraten; gerichtliche Verfahren werden bereits vorbereitet. Aber auch für Brüssel kann es heikel werden. Das Antragsrecht ist keine innerbritische Angelegenheit, es betrifft die Union selbst: "Jeder Mitgliedstaat", so Artikel 50, "kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten." Ob Großbritannien den Brexit wirksam einleitet, muss die EU darum selbst dann prüfen, wenn sich die Briten auf ein Vorgehen geeinigt haben. Entspricht der Antrag aus Sicht Brüssels nicht der Verfassung des Königreichs, dann muss es ihn als unwirksam zurückweisen.

Was aber sind die einschlägigen "verfassungsrechtlichen Vorschriften" in einem Land, das keine kodifizierte Verfassung besitzt? Nicht-kodifiziert heißt nicht, dass es keine schriftliche "constitution" des Königreichs gäbe. Nur verteilen sich ihre Quellen auf eine Vielzahl heutiger Gesetze ebenso wie auf historische Statute und Konventionen, deren ehrwürdigste die Magna Charta von 1215 und die Bill of Rights von 1689 sind. Wegweisende Gerichtsurteile zählen dazu, aber auch - eine wahrhaft britische Eigenart - bedeutende Lehrbücher; hierzu gehören vor allem jene von Albert Venn Dicey und Walter Bagehot aus dem 19. Jahrhundert.

Auch wenn es keinen abschließenden Katalog der konstituierenden Rechtssätze gibt, sind sich alle Verfassungsjuristen in dem Punkt einig, den Dicey autoritativ ausformuliert hat: Großbritanniens Verfassung beruhe auf den Prinzipien "parliamentary sovereignty and rule of law". Die rule of law, die Rechtsstaatlichkeit, ist für die hier verhandelte Streitfrage irrelevant, ganz im Gegensatz natürlich zur parliamentary sovereignty. Sie ist, erklärt das britische Parlament auf seiner eigenen Website, der "wichtigste Teil der Verfassung. Kein Gericht kann Gesetze des Parlaments außer Kraft setzen, kein Parlament beschließen, was spätere Parlamente nicht aufheben können." Keine kontinentaleuropäische Verfassung gesteht ihrer Volksvertretung derart schrankenlose Allmacht zu, über das Land zu bestimmen. Umso weniger verwundert es, dass viele Briten die parlamentarische Souveränität mit der nationalen Souveränität gleichsetzen.

Nicht zuletzt für prominente Brexit-Befürworter gilt das als selbstverständlich. Der Kernvorwurf von Boris Johnson gegenüber David Cameron war stets, dass dieser es nicht geschafft habe, Großbritannien aus der Brüsseler "Haft" zu befreien und die Souveränität des britischen Parlaments zurückzuerlangen. Exemplarisch auch der Tory-Abgeordnete und Mitbegründer der "Leave"-Kampagne, Daniel Hannan, kürzlich im Spectator: Worum es in erster Linie beim Ausstieg gehe, sei die "Wiederherstellung der parlamentarischen Vorherrschaft" (supremacy).

Aber wie verträgt es sich, die parlamentarische Souveränität auf den höchsten Sockel zu stellen und dennoch vom Privileg der Exekutive auszugehen, den so außerordentlich folgenreichen Brexit-Antrag zu stellen? Natürlich ist auch die royal prerogative der Regierung seit Jahrhunderten verankert in der wie immer unscharf umschriebenen Verfassung, zumal für auswärtige Angelegenheiten. Allerdings ist die Unterstellung, dass die EU-Mitgliedschaft hierunter fällt, schon Teil des Problems.

Im Jahre 2004 hat ein gemeinsames Komitee des Unter- und des Oberhauses eine Liste der "fundamentalen Bestandteile der Verfassung" aufgestellt. Die Liste führt ausdrücklich auch den "European Communities Act 1972" auf, jenes Gesetz also, mit dem das britische Parlament 1972 dem Eintritt Großbritanniens in die damalige EWG zugestimmt hatte. Das ist folgerichtig, denn die Mitgliedschaft in der EU greift in der Tat derart umfassend in die konstitutionelle Struktur des Landes ein - das ist ja gerade die Klage der Brexitbefürworter! -, dass von ihr als "auswärtige Angelegenheit" nicht sinnvoll die Rede sein kann. Erst wenn eines Tages der Ausstieg vollzogen ist, wandelt sich das Mitgliedschaftsverhältnis UK/EU wieder in einen normalen völkerrechtlichen Vertrag um und damit zu einer Sache der Außenpolitik.

Gut zwei Drittel aller bestehenden britischen Gesetze sind mit Europarecht verknüpft

Aber selbst wer meint, bei der EU-Mitgliedschaft noch mit der klassischen Abgrenzung von Innen- und Außenpolitik operieren zu können, muss weitere starke Gründe zur Kenntnis nehmen, die gegen ein Recht der Regierung sprechen, den Antrag in Brüssel eigenmächtig zu stellen:

Auch Politiker, die auf die royal prerogative der Regierung setzen, bestreiten nicht, dass das Parlament spätestens vor Abschluss der Ausstiegsverhandlungen eingeschaltet werden muss, um den European Communities Act 1972 außer Kraft zu setzen. Ohne dessen Aufhebung kann das Königreich nicht endgültig ausscheiden, und wie bei jedem Gesetz kann es auch in diesem Fall nur der Gesetzgeber tun. Darüber hinaus ist mindestens noch ein zweites Gesetz erforderlich, nämlich dasjenige, das den schließlich mit dem Rest der EU ausgehandelten Ausstiegsvertrag ratifiziert.

Natürlich kann man die beiden Gesetze am Ende in ein Paket packen. Entscheidend aber ist, dass das Parlament - ist der Antrag durch die Regierung erst mal gestellt - im Hinblick auf das Gesetz von 1972 vor vollendete Tatsachen gestellt wird. De facto wird es genötigt, sein Gesetz von 1972 aufzuheben, ohne dass es darüber mitreden konnte, obwohl das Gesetz sogar Verfassungsrang besitzt. Alles, was die Trennung betrifft, kann zwischen London und Brüssel ausgehandelt werden - nur nicht die Aufhebung dieses Gesetzes; sie ist Vorbedingung. Hier wird daher die Souveränität des Parlaments ins Gegenteil verkehrt.

Ja, die Falle, die ein eigenmächtiger Antrag der Regierung aufstellen würde, ist in Wirklichkeit noch tiefer. Mit dem Antrag nach Artikel 50 wird die ultimative, nur durch Einstimmigkeit aller übrigen 27 EU-Staaten verlängerbare Zweijahresfrist für die Verhandlungen in Gang gesetzt. Nach Ablauf der Frist kommt es, sollten sich London und Brüssel nicht auf neue Modalitäten geeinigt haben, zur automatischen vertragslosen Trennung. Was aber ist dann mit dem Gesetz von 1972? Allein um das dann eintretende Rechtsdilemma (das Land wäre nach diesem Gesetz noch EU-Mitglied, nach EU-Recht aber nicht mehr) zu beseitigen, wäre das Parlament zur Aufhebung seines Gesetzes gezwungen. Ein solcher Zwang, am Ende vor dem schwarzen Loch des fehlgeschlagenen Brexit kapitulieren zu müssen, hat mit einer parliamentary supremacy nichts mehr zu tun.

Zum Abschluss schließlich das nicht nur rechtlich, sondern auch politisch vielleicht gewichtigste Argument gegen ein autonomes Kündigungsrecht der Exekutive: Die Regierung wird sich, bevor sie den Antrag stellt, auf ein Ausstiegskonzept festlegen. Doch rechtsverbindlich ist keiner ihrer Ausstiegspläne. Ermächtigt sie dagegen das Parlament, kann dieses die erteilte Vollmacht an ein ganzes Gerüst gesetzlich festgeschriebener Konditionen binden. Dazu könnte nicht nur gehören, an welchen Leitlinien sich ein Ausstiegsvertragswerk zu orientieren hat, sondern auch, ob eine Mitgliedschaft zum "Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraum" analog zur Schweiz oder zu Norwegen anzuzielen ist, ob die Mitgliedschaft zum Europarat mit seiner - bei vielen Tories so verhassten - Menschenrechtskonvention beizubehalten ist und viele ähnlich strittige, aber substantielle Rahmenbedingungen mehr.

Eine Regierung, die all diese Einwände übergeht, gerät in den Verdacht des politischen Starrsinns. Rund zwei Drittel aller britischen Gesetze, so eine Schätzung von Brexitbefürwortern, sind direkt oder indirekt auf EU-Recht zurückzuführen. Schon der schlichte demokratische Verstand verbietet es, einen epochalen Akt für das Land wie den Bruch mit Europa ohne die Zustimmung seiner Volksvertreter auszulösen.

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