Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen":Ängste und andere Erbschaften

Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen": Die Heldin erfährt im Roman von einem überraschenden Erbe: Einem Hotel in Bad Gastein, womöglich ähnlich dem verlassenen Hotel Straubinger.

Die Heldin erfährt im Roman von einem überraschenden Erbe: Einem Hotel in Bad Gastein, womöglich ähnlich dem verlassenen Hotel Straubinger.

(Foto: Thomas Neukum/imago images/Gonzales Photo)

Verena Roßbacher erzählt mit schräger Originalität von einer Frau zwischen drei Männern und einer unsentimentalen Utopie solidarischen Lebens.

Von Kristina Maidt-Zinke

Im ersten Moment wirkt der Roman merkwürdig antiquiert. Nicht wegen der darin herumschwirrenden Marken- und Produktnamen aus den Achtzigern und Neunzigern, der Jugendzeit der Autorin Verena Roßbacher und ihrer Protagonistin Charly Benz - diese Art von Nostalgie ist ja gängige Praxis und wird von Roßbacher fast parodistisch eingesetzt. Es ist mehr der Weltlage geschuldet, dass die Selbstfindungsodyssee einer 43-jährigen Frau, die komplexbeladen, aber gut gelaunt durch ihren Alltag irrt, dann mit drei Männern gleichzeitig anbandelt und am Ende mit Zähigkeit und Witz als späte Mutter ihr Leben meistert, einem vorkommt wie ein verblasster Stoff aus Zeiten, in denen Eskapismus noch geholfen hat.

Vor allem die genüsslich ausgebreitete Lifestyle-Biografie der Heldin, die in der Marketingabteilung einer veganen Berliner Foodcompany arbeitet und seit ihrer Schulzeit allen modischen, kulinarischen und sonstigen Trends haarscharf hinterhergehechelt ist, verströmte trotz der ironischen Brechung einen Hautgout von "Vorkriegsliteratur", im Sinne der verblüfften Frage: Waren solche Sachen wirklich mal von Belang, das heißt literaturfähig?

Auch hier glänzt die Autorin wieder mit schräger Originalität

Andererseits hat man sich an täglich neue Präludien zur Apokalypse artig gewöhnt (es ist die Anpassungsfähigkeit des Menschen, die ihm irgendwann den Garaus machen wird), und man kann sich schon auch noch für das interessieren, was "demolierte Seelen" gegen Ende der letzten europäischen Friedensphase bewegte und umtrieb. Zumal die Österreicherin und Wahlberlinerin Verena Roßbacher auch in ihrem vierten Roman mit jener schrägen Originalität glänzt, die ihr Debüt "Verlangen nach Drachen" von 2009 ebenso auszeichnete wie die beiden Nachfolger "Schwätzen und Schlachten" und "Ich war Diener im Hause Hobbs".

Zumal sie, wie nicht anders zu erwarten, mit der Geschichte tiefer zielt, als es Plot und Setting vermuten lassen - sogar bis in die Sphäre der "letzten Dinge", als da sind Geburt und Tod, Menschlichkeit und Lebenssinn. Ja, auch Liebe, aber sie tritt hier in Gestalt von Freundschaft und Loyalität auf, sieht man einmal von der kitschfrei zu Herzen gehenden Schilderung der Gefühle ab, die eine Mutter für ihr neugeborenes Baby haben kann. So passt das Buch dann doch wieder in die Zeit, in jede Zeit, weil es tatsächlich so etwas wie Trost vermittelt, auf die Gefahr hin, von einer strengeren Kritik als humoristische Wohlfühlliteratur schubladisiert zu werden.

Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen": Verena Roßbacher, 1979 in Vorarlberg geboren, wurde für ihren vorigen Roman "Ich war Diener im Hause Hobbs" hochgelobt.

Verena Roßbacher, 1979 in Vorarlberg geboren, wurde für ihren vorigen Roman "Ich war Diener im Hause Hobbs" hochgelobt.

(Foto: Kiepenheuer & Witsch/Christian Geyr)

Humor, oder besser: Sinn für Komik auf der Kippe zum Traurigen, ist das Fundament des Romans. Was für eine schöne Idee, aus dem vermutlich nicht seltenen Syndrom "Postangst" (der Furcht also, Briefe zu öffnen, insbesondere solche von Behörden) eine Figur wie Herbert Schabowski zu generieren, einen 60-jährigen Beamtentypen, der für sich das Geschäftsmodell "PostEngel" erfunden hat, also anderer Leute Briefe an sich nimmt, sie gemeinsam mit ihnen öffnet und die damit assoziierten Probleme bespricht. Aus Charlys therapeutischen Sitzungen bei diesem lebensklugen Herrn entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, die sich bewähren muss, als Kettenraucher Schabowski eine schlimme Diagnose erhält.

Unterdessen entpuppt sich das Schreiben einer Wiener Anwaltskanzlei, dessen Inhalt sie fürchtete, als feine Überraschung: Charly hat von ihrem unberechenbaren Vater, genannt "der Don", ein verstaubtes Grandhotel in Bad Gastein geerbt. Zuvor hat sie bei einer Familienaufstellung, einem Geschenk ihrer esoterisch gestimmten Schwester, ihren Jugendschwarm wiedergetroffen. Und, nach langem Single-Dasein, gleich zwei weitere Liebhaber an Land gezogen, sodass sich, als sie plötzlich guter Hoffnung ist, beim besten Willen nicht rekonstruieren lässt, wer der Papa sein könnte.

Verena Roßbacher: "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen": Verena Roßbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 508 Seiten, 24 Euro.

Verena Roßbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 508 Seiten, 24 Euro.

Das macht aber nichts, denn irgendwie raufen sich alle zusammen zu einer märchenhaften und doch unsentimentalen Utopie solidarischen Miteinanders, die immer wieder durch komische Momente ins Wackeln gerät. Und Charly wächst über ihr spätpubertäres Ich hinaus, indem sie sich nicht nur mit ihrer Schwangerschaft anfreundet, sondern parallel dazu Herrn Schabowski durch ein Labyrinth alternativer Heilmethoden begleitet, die sein Leben zwar nicht retten, aber in der finalen Phase heller und hoffnungsvoller gestalten, als es die konventionelle Medizin-Maschinerie vermocht hätte. Diese Wanderung auf der Grenze zwischen Ratio und spiritueller Erfahrung beschreibt Roßbacher mit einer klugen Ambivalenz, die Raum für Unwahrscheinliches lässt, ohne die Realität auszublenden.

Der Roman ist eine Wundertüte an Einfällen, Pointen und Skurrilitäten, für manchen Geschmack (oder manche Befindlichkeit) vielleicht etwas zu wortreich und aufgekratzt, doch vollkommen unverwechselbar. Der Prolog unter dem Titel "Ein paar Worte vorneweg" führt die Qualitäten des Werkes im Miniaturformat vor: Es geht darin um Peter Handke und seine Abneigung gegen Sex-Szenen in Literatur und Film, die Verena Roßbacher herrlich doppelbödig unterstützt. Was sie nicht daran hindert, drei Sexszenen in ihre Erzählung einzubauen. Die sind eher diskret, beziehen jedoch ihren Spezialeffekt daraus, dass sie ziemlich direkt aufeinander folgen, mit besagten drei Männern. Klar, dass Charly da den Überblick verliert. Ihre Seelennähe zu ihrer Erfinderin aber zeigt sich darin, dass sie, als Hommage an den eigensinnigen Dichter Handke, ihrer Tochter den uncoolen Namen "Petra" gibt.

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