Verena Güntners Roman "Power":Alle werden Hundebrüder

Ausblick über endlose Wälder ins Harzvorland Harz bei Wernigerode Sachsen Anhalt Deutschland ***

Zurück zur Natur ist auch keine Lösung: In einer Landschaft wie dieser im Harz spielt Verena Güntners Roman „Power“.

(Foto: imago/Andreas Vitting)

Flucht vor der Kultur: In Verena Güntners für den Leipziger Buchpreis nominiertem Buch "Power" ziehen die Kinder eines Dorfes in den Wald.

Von Marie Schmidt

Provinz ist ja nicht gleich Provinz, aber diese hier kommt einem unheimlich bekannt vor: Wo die Hügel Brocken heißen, im früheren Zonenrandgebiet, liegt ein Dorf mit einer Schule, einer Kirche, einem Edeka. Wenn da die Meyers sterben, steht das Haus sechs Jahre lang leer, dann ziehen Leute aus der Stadt ein und pflanzen dichte Hecken. Der Großbauer am Ort heißt Huber, hat einen Fendt 1000 Vario, einen dicken Traktor, und Erntehelfer aus dem Ausland. Einer kam vor zwanzig Jahren und gehört jetzt dazu: "Weil er sich gut eingegliedert hat und doch auf Distanz blieb." Vor dem Dorf liegen die Rüben- und Kartoffelfelder des Huber und ein Wald, den die Leute von Kindheit an kennen, aber als Erwachsene nicht mehr betreten.

So eine glatte Ordnung bedeutet selten etwas Gutes in einem deutschen Roman, sie besteht wahrscheinlich auf menschliche Kosten. Bevor sie die abrechnet, zählt die 1978 geborene Schauspielerin und Autorin Verena Güntner in ihrem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman "Power" Details auf: "Felderschachbrett, Wiesen dazwischen, ein frisch gepflügter Acker neben einer Weide, auf der Kühe grasen, weiter vorn Heuballen", aus den Häusern "Fernsehgeräusche, Geschirrklappern, Wortfetzen und leise Selbstgespräche", im Kühlschrank sieht man "die Marmelade, das Apfelmus, den Frischkäse, die Margarine im obersten Fach liegen, darunter die Eier, den Emmentaler ...". Standardwarenkorb, Plandeutschland: Es ist nicht sicher, ob die traulichen Dinge einen in Sicherheit wiegen sollen oder das Dorf zum Archetypus machen.

In dieser Landschaft jedenfalls verschwindet ein Hund, der "Power" heißt. Die Besitzerin, eine Frau Hitschke, beauftragt ein Mädchen aus der Nachbarschaft, ihn zu suchen. Es ist gerade noch Kind, elf Jahre alt, kann sich gut konzentrieren, nicht gut mit Emotionen umgehen und nennt sich "Kerze": "Ein Licht in dieser rabenschwarzen Welt", wie treuherzig erklärt wird. "Am Ende hat sie ihn gefunden", heißt es außerdem am Anfang: "Natürlich war er tot und von Maden zerfressen." Um das Schicksal des Tieres geht es also nicht, eher um die Frage, vor welchem Unheil es geflohen ist.

Kerze probiert es erst mit detektivischer Akribie, Recherche, Befragung, Buchführung. Auf einem Foto hat der Hund ein "selbst gesticktes Jäckchen" an und sieht ziemlich menschlich aus. In einer Art Umkehrung diese Bildes kommt Kerze auf eine mimetische Taktik: Sie lernt, zu bellen und zu laufen wie Power, frisst mit dem Mund direkt vom Teller. In den Sommerferien schließen sich ihr die Kinder des Dorfes an und verschwinden als Rudel im Wald, wärmen einander im Schlaf, trainieren, mit blutigen Knien auf allen vieren zu leben. Einmal umkreisen sie einander, die Nase am Po des anderen Kindes, und dazu passt womöglich eine Fußnote in Sigmund Freuds "Das Unbehagen in der Kultur": "Am Beginne des verhängnisvollen Kulturprozesses", heißt es da, "stünde also die Aufrichtung des Menschen. Die Verkettung läuft von hier aus über die Entwertung der Geruchsreize, Sichtbarwerden der Genitalien, weiter zur Kontinuität der Sexualerregung, Gründung der Familie und damit zur Schwelle der menschlichen Kultur." Diesem Prozess entziehen sich die Kinder. Vielleicht, um nicht zu Familiengründern, also erwachsen werden zu müssen. Oder um einer Kultiviertheit etwas entgegenzusetzen, die im Dorf, wie sich herausstellt, mit schwelender Grausamkeit verbunden ist.

Die Figuren sind alle verwandt, verbandelt und einander ausgeliefert

Es handelt sich dabei zwar um gängige Topoi von Coming-of-Age- und von Dorfromanen, den Reiz von "Power" macht es aber aus, dass dieser Roman in seinem ostentativ simplen Stil existenzielle Abgründe umschwänzelt und sich über die genreübliche Gesellschaftskritik eher lustig macht. Wie die sich ausnimmt, kann man beispielhalber am jüngsten Exemplar einer nicht abreißenden Serie von Romanen über die Misere des Landlebens ablesen: "Vom Land", dem Debütroman des 1982 in Oberösterreich geborenen Autors Dominik Barta. Der spielt zwar in Österreich, nicht in Deutschland, aber die Grundbestandteile sind vertraut: Es gibt eine alte Bäuerin, die nicht mehr kann, breitbeinige Geschäftemacher, fortgezogene Bildungsaufsteiger, die nur mit Grausen in die Provinz zurückkehren, ein Figurenensemble, in dem alle irgendwie verwandt und verbandelt und einander ausgeliefert sind.

Barta skizziert dieses Soziotop in so groben Zügen, dass man nicht sagen kann, ob die Erzählung mit Fleiß oder versehentlich ungelenk geraten ist. Da wechseln unvermittelt die Erzähler, womöglich beim Versuch, verschiedenen Perspektiven gerecht zu werden. Nebenbei werden merkwürdig über die Köpfe der Figuren hinweg ihre Lebensbedingungen analysiert: "Obwohl die Einwohnerzahl in den letzten dreißig Jahren kaum gestiegen war, hatte sich das Siedlungsgebiet weit über den Talrücken ausgedehnt. Auf der Südseite prangten etliche Einfamilienhäuser mit ausladenden Gauben, Balkonen und Erkern. Jedes einzelne hätte einer Vielzahl von Personen Platz geboten. Meist lebten darin kleine Familien, mit einem oder zwei Kindern und einem Hund." Das ist in trockenster Form die Gegenwartsdiagnose der gängigen Geschichten vom Land: Die mondäne Unsitte der Singularisierung wird als Zersiedelung zum Strukturproblem auf dem Land. Das betrifft auch den letzten Hund und wirkt da draußen noch viel entfremdeter als im urbanen Leben - eines Schriftstellers beispielsweise. Vom Dorfleben bleibt nur das Schlechteste: Das Gerede und Gehetze, vor dem sich auch in "Vom Land" ein Kind in den Wald zurückzieht. Wo es auf einen syrischen Jungen trifft, dessen Familie von den örtlichen Neonazis verfolgt wird.

Ohne Nazis scheint momentan kein Dorfroman auszukommen. Oder Romane, in denen Nazis vorkommen, spielen auf dem Land, als seien Rechtsradikale ein Problem der Provinz. Bei Verena Güntner ist der Nazi eigentümlicherweise ein kleiner Junge, mit dem keiner etwas zu tun haben will, weil er alle fragt: "Willst du mit mir zusammen ein Nazi sein?" Später nehmen die Kinder ihn in ihr Rudel auf, wo er "den Nazi rausschwitzt", wie es heißt. Verena Güntner spielt da eher spaßeshalber auf Probleme der Radikalisierung der Ränder, der Fragmentierung der Gesellschaft an und sieht die Vereinzelung zugleich radikaler: In ihrem Dorf verliert jeden Schutz und jede Sicherheit, wem der Ehemann oder der Hund wegläuft, wie der Hitschke. Deren Scham, verlassen worden zu sein, macht sie fast wahnsinnig und tatsächlich zum Paria.

Aus der Zivilisationsflucht wird kein Idyll, das rettet den Roman

Dieser ständig mit Ausschluss drohenden Erwachsenenkultur gegenüber ist Kerzes Kinderwelt voller Mitwesen: "Sie schaut den Bäumen beim Wachsen zu, seit sie leben" und pflegt Umgang mit bösen Geistern sowie einem "Keingott" genannten höheren Wesen. Insofern nimmt es nicht wunder, wie hemmungslos sie sich mit dem verschwundenen Hund verschwistert. Eigentlich gehört sie damit zu den rasend futuristischen Figuren, die auch die Feministin Donna Haraway in ihrer spekulativen Ökologie beschreibt: In Anbetracht der wachsenden Weltbevölkerung und der Zerstörung der Natur schlägt Haraway vor, sich Wesen anderer Spezies "zu Verwandten zu machen", statt eigene Kinder zu bekommen: "Make kin, not babies!"

Das hieße praktisch, Freuds "Kulturprozess" nicht mit der Gründung biologischer Familien als Kern von Gesellschaften enden zu lassen, sondern die Zivilisation weiterzuentwickeln. Zumal wenn sich herausstellt, dass die Kultur bis dato Egoismus, Feindseligkeit und der Ausbeutung der Umwelt Vorschub geleistet hat. Haraway schlägt dagegen vor, Familien auszuweiten zu "Arten-Assemblagen", Netzwerken von Tieren, Pflanzen, Ökosystemen und technischen Komplexen, in denen der Mensch Mitglied, aber kein Zentrum mehr ist. Verena Güntners Kerze wäre auf jeden Fall schon so weit.

Allerdings endet ihre Zivilisationsflucht nicht im Idyll, und das rettet den Roman vor der Esoterik: Güntners Heldin erzwingt die Auswilderung der Kinder autoritär und setzt sich im Zweifel mit Gewalt an die Spitze ihres Rudels. Zwischen dem Kinderrudel und der Erwachsenengesellschaft kommt es zu aggressiven Abgrenzungskämpfen. Man sieht, wie die Brutalität eines Zustands, in dem der Mensch dem Menschen ein Hund ist, und die Brutalität der Vereinzelung in der Zivilisation ineinandergreifen. So gesehen wird aus diesem Roman, der sich den Ton und den Anschein einer simplen Kindergeschichte gibt, ein existenzielles Drama, indem die Rettung der Menschheit wieder einmal misslingt.

Verena Güntner: Power. Roman. Dumont, Köln 2020. 254 Seiten, 22 Euro. Dominik Barta: Vom Land. Roman. Zsolnay, Wien 2020. 176 Seiten, 18 Euro.

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