"Simon Boccanegra" am Opernhaus Zürich:Bürgerliches Opernmuseum

"Simon Boccanegra" am Opernhaus Zürich: Ein Hybrid aus Live-Gesang, zugeschaltetem Orchester und Fernchor: Hausherr Andreas Homoki inszenierte ganz unaufregend traditionell, Christof Fischesser singt den Jacopo Fiesco (links), Christian Gerhaher den Simon Boccanegra.

Ein Hybrid aus Live-Gesang, zugeschaltetem Orchester und Fernchor: Hausherr Andreas Homoki inszenierte ganz unaufregend traditionell, Christof Fischesser singt den Jacopo Fiesco (links), Christian Gerhaher den Simon Boccanegra.

(Foto: Monika Rittershaus)

Andreas Homoki inszeniert in Zürich Giuseppe Verdis "Simon Boccanegra" als belanglose Klamotte.

Von Reinhard J. Brembeck

Wer die neuesten Nachrichten zur Digitalisierung aus der ganz ins Analoge verliebten Klassikszene erfahren wollte, der musste jetzt nach Zürich fahren. Dort fand eine der wenigen derzeit vor Publikum gespielten Opernpremieren statt, Giuseppe Verdis düsteres Mega-Unglücks-Familiendrama "Simon Boccanegra" - mit Christian Gerhaher in der Titelrolle, inszeniert vom Hausherrn Andreas Homoki, dirigiert von Musikchef Fabio Luisi und live übertragen vom Kultursender Arte. Der "Simon" wurde in der von diesem Haus ausgeklügelten Hybridspielart aufbereitet: Die Sänger agieren auf der Bühne, Chor und Orchester samt Dirigent werden aus dem einen Kilometer entfernten Probenraum live über Lautsprecher zugespielt. Diesen digital-analogen Mix durften 50 Besucher in dem feudal-schicken Zürcher Opernhaus mit seinen 1100 Plätzen miterleben.

Ganz egal, ob Jennifer Rowley die Heldentochter gibt, Otar Jorjikia deren Liebhaber oder Christof Fischesser des Helden liebsten Feind: Diese am italienischen Standardideal orientierten Stimmen füllen beglückend den Raum. Sie haben Körper und Volumen, sie verästeln sich in Feinheiten, sie können sich wegdimmen, mit Sturmgewalt orgeln. Die Körperlichkeit von Stimmen in einem Opernhaus ist der Grund, warum Menschen süchtig sind nach Liveaufführungen, warum sie schier den Verstand verlieren, wenn Cecilia Bartoli oder Anna Netrebko, Jonas Kaufmann oder der mittlerweile jenseits allen Sängerstandards agierende Plácido Domingo ihren Mund auch nur öffnen. Das Phänomen "Große Stimme in großem Raum" zielt direkt ins limbische System, es ist eine der wirkungsvollsten, nie indizierten Drogen. Es hilft zudem dabei, Langeweile in puncto Dirigat, Personenführung, Rollengestaltung - davon gibt es in Zürich ein gerüttelt Maß - erträglich zu machen. Der Besucher braucht nur sein ästhetisches Gewissen abzulegen und sich der Wollust der Stimmfluten hinzugeben.

Da hilft die beste Übertragungstechnicht nicht: die zugespielten Stimmen sind anorganisch, steril, tot.

Nun werden in Zürich aber Chor und Orchester live zu den Stimmen eingespielt. Da mögen die besten Mikrofone im Spiel sein, die besten Glasfaserkabel, die besten Lautsprecher. Während die live agierende Sänger den Raum mit Leben erfüllen, gelingt das weder Chor, noch Orchester. Ihr Digitalklang, das ist keine neue Erfahrung, ist flach und körperlos, er verwächst weder mit dem Raum noch blüht er darin auf. Er ist unüberhörbar anorganisch, steril, tot. Das wird durch die Mischung mit den Sängerstimmen zusätzlich betont. Beide Klangebenen vermischen sich genauso wenig wie Wasser und Öl. Das Zürcher Experiment ist nur ein Notbehelf, ein Hybridklang mit digitaler Krücke.

Zudem ist das Zusammenspiel von Stimmen und Instrumenten pauschal. Jenes in Liveaufführungen so verführerische Ineinandergleiten der Klangwelten, die Feinheiten, die Spontanität der Abstufungen fehlen. Dirigent Fabio Luisi arbeitet aus der Ferne an einem ganz anderen Projekt als die Sänger. Die daraus resultierende Vereinzelung ist Gift für die Musik. Luisi geht gemächlich zu Werke, er fordert nie das Äußerste an Durchschlagskraft, Klangphantasie, Genauigkeit, Glut. Verdis wild romantische Hackstückdramaturgie mit ihren vielen scharfen Kontrasten fügt sich bei Luisi zu keiner Einheit.

Das ist umso bedauerlicher, als Verdi das Orchester dezidiert als gleichberechtigten Partner der nach wie vor zentralen Singstimmen behandelt. So viel Düsternis, Hölle, Abgrund, Seelencrash und Hass hat er davor nie komponiert, die Instrumente erzählen davon im Übermaß. Verdi häuft auf den Titelhelden, einen vom Seeräuber zum Staatschef aufgestiegenen Außenseiter, Unheil um Unheil: die Frau früh gestorben, vom Schwiegervater gehasst, dem geliebten Meer entrissen, das Kind tragisch verschwunden, Opfer politischer Intrigen, von einem korrupten Parteigänger vergiftet. Patsch, patsch, patsch kriegt Boccanegra die Schicksalsschläge drübergeklatscht.

Verdis Helden sind gern starke Männer, die so lange geprügelt werden, bis sie kaputt sind.

Christian Gerhaher gibt diesen Unglücksraben. Oper, erst recht die italienische, ist nicht das genuine Genre dieses grandiosen Liedersängers. Auf der Bühne wirkt Gerhaher stets gehemmt, so, als würde er sich schämen, das Innerste seiner Helden nicht nur durch Vokalisen, sondern auch durch Gesten und Körperhaltungen ausdrücken zu müssen. Deshalb ist sein Spiel vergrübelt unfrei und ungelenk. Verdis Helden sind gern starke Männer, die so lange geprügelt werden, bis sie kaputt sind. Gerhahers Machtpolitiker und Freiheitsliebhaber Simon aber ist von Anfang ein Seelenwrack, er kann sich immer nur mit Mühe zu Herrscherformat aufschwingen. Schnell sackt dieser Boccanegra dann wieder in sich zusammen, das Leid gewinnt die Oberhand. Gerhaher singt die Partie so, wie er Lieder singt. Er formt jeden Ton anders, er wechselt die Lautstärken, dünnt aus, verdichtet. Die Melodik ist brüchig. Das zeichnet Simon von Anfang an als zutiefst verstörten Menschen. Dieses Porträt kennt aber keine Entwicklung, es widersetzt sich in seiner Statik der Wildheit dieser Oper, es verkleinert den Boccanegra auf einen verquälten Privatmann.

Der Opernliebhaber kann sich diese Aufführung jetzt drei Monate lang auf Arte Concert kostenlos anschauen. Während der Zuschauer vor Ort immer die Totale vor Augen hat und ihm deshalb manche Details entgehen, liefert die Aufzeichnung ein abwechslungsreiches Panoptikum an Einstellungen. Doch auch im Film wird deutlich, dass Andreas Homoki dieses szenisch schwierige Stück weder zu beleben, noch zu deuten weiß. Homoki lässt in einem sterilen klassizistischen Palazzo eine Soap von der letzten Jahrhundertmitte ablaufen. Sein bevorzugtes Mittel sind längst aus jeder Zeit gefallene Operngesten, die die Familiengeschichte mit der zähen Patina unfreiwilliger Komik verklebt. Oder sollten die unbeholfenen Gesten Absicht sein? Es ist ein Jammer, dass eine der derzeit wenigen und zudem von aller Welt erlebbaren Neuproduktionen so entschieden ins bürgerliche Opernmuseum der Belanglosigkeit drängt.

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