Verbrechen und Kino:Küssen wie Corleone

Man Kissing Al Pacino's Hand

Ur-Gesten des Mafia-Films: Al Pacino in "Der Pate" (1972).

(Foto: Corbis)

Von Al Capone bis "El Chapo": Mafiosi suchen die Nähe Hollywoods - und lassen sich von den Filmgangstern inspirieren.

Gastbeitrag von Federico Varese

Der mexikanische Drogenboss Joaquín "El Chapo" Guzmán lud im Oktober 2015 den Schauspieler Sean Penn und den mexikanischen Star Kate del Castillo in sein Versteck ein. Das Treffen führte zu Guzmáns Verhaftung. Warum das Risiko? Nun, El Chapo wollte, dass Hollywood einen Film über ihn dreht. Denn Kino und organisiertes Verbrechen ziehen einander seit jeher an.

Drehbuchautoren und Produzenten durchstöbern die Wirklichkeit nach fesselnden Stoffen und faszinierenden Biografien. In den USA der Dreißiger Jahre wurden mehrere Filme über die Schießereien der Prohibitionszeit und über das Leben von Al Capone gedreht: "Little Caesar" (1930), "Public Enemy" (1931), "Scarface" (1932). Heute schauen viele von uns die Netflix-Serie "Narcos" über Pablo Escobar. Trotzdem sind Mafiosi nicht nur passive Objekte des Kinos. Sie interessieren sich sehr für ihr Image auf der Leinwand, für Kino und Film. Soeben hat die italienische Polizei zwei der gefährlichsten Mafiosi des Landes aufgespürt. Giuseppe Crea und Giuseppe Ferraro von der 'Ndrangheta hatten in einem Erdloch gehaust - mit wenig mehr als einer Wand voll Waffen und einem Satellitenfernseher.

Al Capone imitierte Gestik und Kleidung eines Filmhelden

Wenn den Gangstern das Image gefällt, benehmen sie sich so wie die Figuren auf der Leinwand. Der erste Gangster-Film, "Musketeers of Pig Alley", gedreht vom Regisseur D.W. Griffith im Jahr 1912, erzählt die Geschichte eines Kleinkriminellen, der sich in die Frau eines Musikers verliebt, den er ausraubt. Der Räuber schützt die Frau dann gegen einen Gangster, der sie bedrängt. Der Held, Snapper Kid, hat einen coolen Gang, Hände in den Taschen seiner hellen Jacke, in denen er eine Pistole versteckt, und trägt einen Porkpie-Hut hoch über der Stirn. Er ist eleganter gekleidet als der Rest der Herumhänger und andere Gangmitglieder, und er ist stolz darauf.

Der Kurzfilm spielt in Lower Manhattan zu einer Zeit, als mächtige Gangs die Gegend kontrollierten. Als der Film herauskam, war Al Capone, selbst in New York geboren, 13 Jahre alt. Er schloss sich einer der Gangs an und sah den Film. "The Musketeers of Pig Alley" machte einen derartigen Eindruck auf die Gangmitglieder, dass sie begannen, Gestik und Kleidung des Filmhelden zu imitieren.

"The Godfather" von 1972 war der Film, den italienisch-amerikanische Gangster am meisten liebten. Noch bevor der Film in die Kinos kam, hörte das FBI Telefonate von Mafiosi ab, die über die Besetzung der Rollen diskutierten. Als der Film dann herauskam, sahen ihn echte Gangster immer und immer wieder. Louie Milito, ein Mitglied der Gambino Family, getötet 1988, "sah den Film sechstausend Mal", schrieb seine Witwe in ihrer Autobiografie. Milito und seine Mannschaft "haben sich wie Godfather-Schauspieler benommen, sich geküsst und umarmt und ganze Sätze nachgesprochen. Ein paar fingen an, Italienisch zu lernen", berichtet sie.

Die Mafia hätte gerne eine Corporate Identity, darf aber keine aufbauen. Da hilft das Kino

Der italienische Soziologe Diego Gambetta hat die Bedeutung von Filmen für die italienischen Mafias beleuchtet. Da es in Italien und in den USA verboten ist, der Cosa Nostra anzugehören, können Gangster dort nicht öffentlich Werbung für sich machen - anders als etwa in Mexiko, wo die sogenannten Narcocorridos, die Drogen-Balladen, ein großes Publikum erreichen. Die Mafia hätte gerne eine Corporate Identity, kann aber legal keine aufbauen. Filme führen dazu, dass Kriminelle vom großen Publikum als Mitglieder einer sonst verbotenen Organisation anerkannt werden. Indem sie sich wie die Gangster auf der Leinwand benehmen, vermitteln Mafiosi die Botschaft: Wir sind die echten.

Das Paradox liegt darin, dass echte Gangster ihr eigenes cineastisches Image nachahmen, um in den Straßen von New York und Palermo zu bestehen. Natürlich hat das Leben die Kunst schon immer imitiert, lange bevor die siebte Kunst erfunden wurde. Die Regeln der Ritterlichkeit, die Europas Ritter im Spätmittelalter befolgten, stammten größtenteils aus König-Artus-Romanen. MI6-Agenten nannten ihre Organisation "The Circus", nachdem sie John Le Carré gelesen hatten. Im Falle des organisierten Verbrechens funktionieren Filme unabsichtlich wie eine gigantische Werbemaschine für kriminelle Organisationen.

Scorsese fiel bei den Gangstern durch

Es macht nichts, dass die Darstellung auf der Leinwand nicht sehr genau ist. Italienische Mafiafamilien bestehen selten aus Personen, die miteinander verwandt sind. Und anders als in "The Godfather" folgt auf einen Mafiaboss selten sein Sohn. Der Roman- und Drehbuchautor Mario Puzo gab gerne zu, dass er wenig über die Mafia wusste, als er den "Paten" schrieb, die echten Gangster fühlten sich trotzdem gut getroffen. Puzo gelang eine Geschichte von Liebe, Ehre und Tod, die den Mafiosi jenen Lebenssinn gab, der in ihrem groben, unglamourösen Alltag fehlte. Details waren da nicht so wichtig.

Aber die Bosse mögen nicht alle Filme, die sie sehen. Die "Pate"-Trilogie kam sehr gut an, aber die Werke von Martin Scorsese wie "Mean Streets" (1973), "Goodfellas" (1990) und "Casino" (1995) fielen beim Gangsterpublikum durch. Auch "Donnie Brasco" (1997), die Geschichte eines FBI-Agenten, der in den Siebzigerjahren die Bonanno-Familie infiltrieren konnte, war in gewissen Gegenden von Little Italy alles andere als populär. Erzählungen, in denen die Mafia als ein Haufen egoistischer, von den Ordnungshütern am Ende überlisteter Kerle dargestellt wird, tun wenig, um den Ruf der Organisation aufzupolieren. Das Gleiche gilt für Filme, die sich über Gangster lustig machen, wie "Analyze This" ("Reine Nervensache", 1999) über einen Boss, der zum Psychiater muss.

Archival Cinema and Entertainment

Gefährliche urbane Spinner wie Robert De Niro und Harvey Keitel in "Mean Streats" mochten die echten Verbrecher weniger.

(Foto: INTERTOPICS/PictureLux)

Der Wunsch der Verbrecher, ihre eigenen Drehbücher zu schreiben, ist sehr groß

Vermutlich war Guzmán bereit, an einem Film über sich selbst mitzuwirken, der ihn als liebenden Sohn und Vater zeigen würde, als jemanden, der von der Armut in ein Leben voller Verbrechen gezwungen wurde, der gegen blutrünstige Rivalen bestehen muss, die den Tod verdienen. Das ist das Bild, das Penns Interview mit Guzmán im Rolling Stone vermittelt. Ein Hollywood-Blockbuster hätte die Corporate Identity des Sinaloa-Kartells genau dort beworben, wo das Kartell es am nötigsten hat: in den USA. Guzmán hätte bestimmt darauf bestanden, dass seine Vorliebe für minderjährige Mädchen, die laut einem Bericht des New Yorker korrupte Wächter in seine Zelle brachten, nicht im Vordergrund steht. Auch die Tatsache, dass seine Flucht aus dem Gefängnis überhaupt nicht wagemutig war, hätte auf der Leinwand vermutlich anders ausgesehen.

Der Wunsch der Mafia, ihre eigenen Drehbücher zu schreiben, ist stark. In Japan begann die Mafia damit bereits in den Siebzigerjahren. Kinji Fukasaku - der spätere Regisseur von "Battle Royale" - arbeitete damals für Toei, eine der fünf großen Produktionsfirmen, die auf Samurai- und Yakuza-Filme spezialisiert war. In einem Interview verriet er Jahrzehnte später, wie produziert wurde. Paten, die in den Filmen porträtiert wurden, sahen sich die Filme an, bevor diese in die Kinos kamen, und die Filmemacher konnten nur hoffen, dass die Herren zufrieden blieben.

Allerdings verlor Toei zunehmend das große Publikum. Warum? Weil die standardisierte Handlung immer die gleiche war: Ein junger Yakuza wird gezwungen, den Ehrenkodex der Mafia zu brechen, um einem bösen Boss zu gefallen, der am Ende stirbt, auf dass der Ehrenkodex wiederhergestellt werde. Die urbanen Ängste und das moralische Dilemma der besten amerikanischen und japanischen Gangsterfilme - ein Kleinkrimineller rebelliert gegen das System, ist aber selber korrupt und deswegen zur Niederlage verdammt -, solche Erzählungen wurden bei Toie nicht mehr verfilmt.

Das ist die Lehre, die Joaquin Guzmán und seine Freunde in Hollywood noch nicht gezogen haben: Ein Gangster am Regiepult begeht auch Verbrechen gegen die Kunst.

Federico Varese ist Professor für Kriminologie an der Universität Oxford. Aus dem Englischen von Tim Neshitov

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