Verbrechen:Die von der Tankstelle

Capital Mafia mayor Virginia Raggi in court, Rome, Italy - 20 Jul 2017

Virginia Raggi, die regierende Bürgermeisterin von Rom, bei der Urteilsverkündigung.

(Foto: Massimo Percossi/EPA/REX/Shutterstock)

In Rom hat ein Gericht mit dem Verdacht aufgeräumt, es gäbe eine "Mafia Capitale", eine Mafia der Hauptstadt. Das macht das Vorgehen gegen die Kriminellen indes nicht leichter.

Von Thomas Steinfeld

Ins Leben gerufen wurde das Ungeheuer durch einen Haftbefehl von 1200 Seiten Umfang, den die Staatsanwaltschaft Rom im Dezember 2014 vorlegte. Er richtete sich gegen Politiker, Kommunalbeamte und Geschäftsleute in der italienischen Hauptstadt, die unter Verdacht standen, in großem Umfang öffentliche Aufträge arrangiert zu haben, zu allseitigen privaten Vorteilen: bei der Müllabfuhr und in der Parkverwaltung, vor allem aber bei der Unterbringung von Migranten. Ermittlungen wurden aufgenommen gegen einen ehemaligen Bürgermeister, gegen den Leiter des städtischen Wohnamts, gegen Funktionäre der Mitte-links-Partei ("Partito Democratico") wie der Mitte-rechts-Partei ("Forza Italia") und drei Dutzend weitere Verdächtige. Betrieben wurde dieses Verfahren von einer Staatsanwaltschaft, die überzeugt davon ist, dass die Mafia in den vergangenen Jahrzehnten ihren Charakter änderte, weg von Erpressung und Mord, hin zu zivileren Formen des Verbrechens. Die Formel "Mafia Capitale" wurde zum Namen dieses Ungeheuers, die "Mafia der Hauptstadt".

Carminati glaubte man den großen Mafioso. Sein Beiname: der "Einäugige"

Am Freitag vergangener Woche ergingen die Urteile der ersten Instanz. Der Hauptbeschuldigte Massimo Carminati, vermutlich eine der zentralen Figuren der römischen Unterwelt und einst Verbündeter einer rechtsradikalen Terrororganisation, wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Sozius Salvatore Buzzi soll für 19 Jahre hinter Gitter gehen. Das sind hohe Strafen. Sie wären indessen weit höher ausgefallen, wären die beiden als Mitglieder einer kriminellen Organisation nach Art der Mafia verurteilt wurden. Der Verdacht "la Mafia Capitale non esiste" ("die Mafia-Hauptstadt existiert nicht") hatte das Verfahren von vornherein begleitet. Das Gericht schloss sich dieser Einschätzung an. Vor allem vermisste man einen hohen Grad von Organisation, wie es die Verbrechen der Mafia kennzeichnet. Man habe den "Paten" (nach Francis Ford Coppola) erwartet, schrieb dazu die nationalkonservative Politikerin Flavia Perina in einem Kommentar für das italienische Internet-Journal Linkiesta. Es sei aber nur "Febbre de Cavallo" ("Pferdefieber") herausgekommen - sie bezieht sich auf einen beliebten Film aus dem Jahr 1976, eine Komödie, in der zwei römische Kleinkriminelle das große Geld mit Pferdewetten zu verdienen trachten und dabei immer wieder scheitern.

Tatsächlich können sich die Summen, die der Stadtverwaltung Roms für korrupte Zwecke vorenthalten wurden - ein paar Zehntausend Euro hier, ein paar Hunderttausend Euro dort -, nicht mit den vielen Millionen messen, die bei der Vergabe der Aufträge für die Weltausstellung in Mailand oder für den Bau des hydraulischen Damms vor Venedig beiseitegeschafft worden sein sollen. Um so wirkungsvoller für den Ruf der "Mafia Capitale" war dagegen die Beteiligung Massimo Carminatis: Diesem Mann glaubte man den großen Mafioso, so oft, wie er nicht nur mit der Mafia, sondern auch mit rechtsradikalen Geheimbünden und dem entsprechenden Terrorismus unter Andreotti in Verbindung gebracht wurde. Und dazu passte, dass er bei einer Schießerei mit der Polizei ein Auge verloren hatte und seitdem der "Einäugige" oder der "Pirat" genannt wird. Nach der Verhaftung fand die Polizei Werke von Jackson Pollock und Andy Warhol in Massimo Carminatis Wohnung. Allein schon sein Gesicht ließ eine Vision von Mafia plausibel erscheinen. Dagegen half es auch nicht, dass er während des Verfahrens die vermutlich von ihm betreuten Absprachen zwischen Stadtverwaltung und Geschäftsleuten als "Mafia von der Tankstelle" ("mafia del benzinaro", es gab diese Tankstelle tatsächlich) bezeichnete.

Es wäre für Italien, für Rom und auch für Virginia Raggi, die seit gut einem Jahr regierende Bürgermeisterin der Stadt von der Bewegung Fünf Sterne, einfacher gewesen, hätte es sich bei den Machenschaften tatsächlich um mafiöse Aktivitäten in großem Maßstab gehandelt. An die Stelle einer abgrundtief bösen und undurchschaubaren Macht tritt nun eine "gewöhnliche, banale Assoziation von Leuten, die die Hand aufhalten" ("trafficoni", Flavia Perina). Hinter der Maske des großen Verbrechens, so wie es historisch und national verbürgt zu sein scheint, kommt der Alltag einer mehr oder minder korrupten Bürokratie zum Vorschein - einer öffentlichen Verwaltung, deren langsame und schwierige Routinen man durch einen persönlichen Zugang zu überwinden trachtet, das übliche Klientelwesen, die "Freundschaften" und die informellen Kartellbildungen, so wie es sie keineswegs nur in Italien gibt. Der Umstand, dass Salvatore Buzzi in einem von der Polizei abgehörten Telefongespräch sagte, die Unterbringung von Migranten sei lohnender als der Drogenhandel, erscheint unter diesen Voraussetzungen womöglich weniger als Auskunft zur Sache denn als Angeberei eines Menschen, der solche Auftritte nötig hat.

Eine Normalität zu verändern dürfte viel schwieriger sein, als einen Bösewicht zu vertreiben

Der Mafia scheint eine spezielle Form von Exorzismus zu gelten: Erwischt man ihr führendes Personal, so geht der Glaube, verschwindet ihr Verbrechen. Massimo Carminati musste die Untersuchungshaft in einem eigens für Mafiosi eingerichteten Gefängnis in Parma verbringen, völlig vom Rest der Welt abgeschnitten.

Mit dem Alltag einer korrupten Bürokratie lässt sich auf diese Weise indessen kaum umgehen, und das gilt um so weniger, als eindeutige, transparente und allgemein respektierte Regeln die Fähigkeiten des italienischen Gemeinwesens, in permanent wechselnden Verhältnissen zu überleben, vermutlich eher mindern als vergrößern würden. Damit ist nicht zurückgenommen, dass dieses Gemeinwesen allenfalls mit Einschränkungen funktioniert: Es gibt die Müllberge von Rom, der öffentliche Nahverkehr ist eine wenig zuverlässige Einrichtung, und die Geschäfte mit der Unterbringung von Flüchtlingen sind ein Skandal. Eine Normalität zu verändern, dürfte hingegen viel schwieriger sein, als einen Bösewicht zu vertreiben. "Heute gab es einen Sieg für die Bürger, die Zivilgesellschaft und die Legalität", sagte Virginia Raggi, die Bürgermeisterin, nach der Urteilsverkündung. Der Satz klingt, als wollte sie sich Mut zusprechen. Sie dürfte ihn brauchen: Beide Seiten des Verfahrens werden wohl in die nächste Instanz gehen.

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