Theater im Knast: "aufBruch" in der JVA Tegel
Man weiß nicht, was man bei der Theatergruppe "aufBruch" aus der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel mehr bewundern soll, die Kraft, mit der sich die Häftlinge an den großen Dramatikern abarbeiten, oder ihr eigenes Durchhaltevermögen. Mit wechselnder Besetzung bringt sie seit 25 Jahren jedes Jahr mindestens ein Stück zur Premiere, immer mit einer enormen Spielfreude. Wenn die Stücke von Gewalt, Verbrechen oder der Einsamkeit der Gefängniszelle handeln, entwickelt das Spiel eine eigene Dringlichkeit: Diese Männer wissen, wovon sie reden. Einer der Besucher von außen war der schwer beeindruckte Schauspieler Edgar Selge: "Ich gestehe, dass sie mich regelrecht wegriss - als würde ich meine lebenslange Arbeit als Schauspieler plötzlich neu begreifen." Jetzt erlaubt ein prächtiges Theaterbuch zum 25. Jubiläum Einblicke in diese sehr besondere Theaterarbeit. Peter Laudenbach
"Im Westen nichts Neues": Der Filmklassiker von 1930
Wenn sich moderne Blockbuster-Regisseure an Kriegsfilme wagen, ist ein Klassiker von 1930 über den Ersten Weltkrieg immer noch die wichtigste Referenz - "Im Westen nichts Neues", englischsprachig, aus Hollywood, Regie Lewis Milestone. "Für mich ist das die stärkste Antikriegserzählung des Kinos überhaupt, bis heute", sagt zum Beispiel "Inception"-Meisterregisseur Christopher Nolan im SZ-Interview. "So brutal und so unsentimental. Wie unerbittlich der Bombenhagel gezeigt wird. Die Guten werden nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft - was den Menschen im Krieg passiert, ist wahllos und grausam. Schockierend, welche Kraft das noch immer hat."
Entscheidend war bei der Verfilmung neben dem russischstämmigen Regisseur und Kriegsrealisten Milestone der Hollywood-Pionier und Studioboss Carl Laemmle. Ein ausgewanderter deutscher Jude aus Laupheim, der lange vor dem Ersten Weltkrieg Amerikaner wurde, im Pass und im Herzen, die alte Heimat aber noch verstand - und die Rechte des Romans von Erich Maria Remarque kaufte. Nur mit dem Blick von Amerikanern auf Deutschland war es überhaupt möglich, die Verheerungen von Nationalismus und Patriotismus derart klar im Kino zu zeigen - ein ähnlicher Film über amerikanische Soldaten wäre damals noch unmöglich gewesen.
Entsprechend groß war der Hass der Nazis und Konservativen bei der deutsche Premiere 1930, Goebbels schickte seine SA-Schlägertrupps in die Kinos, kurz danach erfolgte ein Verbot wegen "ungehemmt pazifistischer Tendenz". Aber auch andere Länder, die weiter Krieg führen wollten, kürzten, schnitten und verboten an dem Film, was das Zeug hielt. Carl Laemmle aber erkannte an der Reaktion der Nazis das kommende Grauen und begann, deutsche Juden aus dem Land zu holen. Wer nun bei Netflix auf die brandneue deutsche Version von Edward Berger stößt, sollte unbedingt auch diese Urverfilmung noch einmal würdigen - und ihre sagenhafte Modernität. (Verfügbar auf Google Play, Amazon Video, AppleTV etc.). Tobias Kniebe
Nils Koppruch und die Band "Fink": Was für Songtexte
Als SAM und als Gunnar Wikklund malte Nils Koppruch mit Farben. Unter seinem richtigen Namen malte er indes mit Worten, die er so stimmungsvoll zu setzen verstand, dass seine Dichtungen schon mal wie spannende Filmsequenzen wirken, die die Zuschauer augenblicklich ins Filmgeschehen verwickeln. Folgerichtig veröffentlichte Koppruch seine Dichtkunst auch nicht in Büchern. Er entfaltete sie stattdessen in einer Musik, die nicht nur der Soundtrack zu seinen Texten ist, sondern eben auch die Kamerafahrt durch die von ihm besungenen Szenen. Damit gelang es seiner Band Fink zugleich, die deutschsprachige Countrymusik von ihren Schlagerfesseln zu befreien.
Nicht dass ihnen das mit einem kommerziellen Erfolg gedankt worden wäre. Die meisten Zuschauer erreichten Fink wahrscheinlich auf ihrer Tournee als Vorgruppe für Element of Crime. Und gemessen an ihrem damaligen Auftritt in der Münchner Muffathalle erreichten sie jene Zuschauer zugleich auch nicht. "In Hamburg wäre jetzt mehr Stimmung. Aber ich sehe schon, ihr kennt eure eigenen Bands nicht", rügte Koppruch damals das Publikum, weil es nicht einmal ein von Fink gecovertes Stück der Münchner Band FSK zu würdigen wusste. Als später dann Koppruchs Zusammenarbeit mit Gisbert zu Knyphausen als Kid Kopphausen endlich ein größeres Publikum zu erreichen schien, starb der gebürtige Hamburger in seiner Heimatstadt am 10. Oktober 2012 mit 46 Jahren an Herzstillstand infolge einer Herzmuskelentzündung. "Hamburg trauert um einen seiner besten Songwriter", hieß es damals im Spiegel.
Zehn Jahre später und 25 Jahre nachdem Koppruchs Band Fink mit der CD "Vogelbeobachtung im Winter" debütierte, gibt es diese nun erstmalig als Vinyl-Schallplatte. Sie und die anderen fünf Fink-Alben erscheinen bei Trocadero auf farbigem Vinyl in einer limitierten Vinyl-Box mit Booklet im LP-Format. Zudem gibt es die extra für die Vinyl-Pressungen von Chris von Rautenkranz (Soundgarden) neu remasterten Fink-Alben aus den Jahren 1997 bis 2005 als einzelne LPs. Mit solch liebevoller Edition gedenkt der Labelbetreiber Rüdiger Ladwig eines Künstlers, der selbst über sich sang: "Der Zufall hat mich hergebracht und die Gelegenheit". Dirk Wagner
Am Rande von Europa City
Europa klingt ja schon etwas länger nicht mehr nur nach einem Versprechen. In der Stadtentwicklung steht der Begriff, wenn er vor neuen Quartieren auftaucht, tatsächlich für ein absolutes Scheitern und zwar auf allen Ebenen: architektonisch, gesellschaftlich, sozial und nicht zuletzt politisch. Denn was sich in Frankfurt Europaallee, in Stuttgart Europaviertel und in Berlin Europa City nennt, ist nichts anderes als ein riesiges Stück seelenloser Investorenarchitektur in bester Innenstadtlage, weil die Areale alle früher mal zentrale Rangier- und Güterbahnhöfe waren.
Wie es dazu kommen konnte, erinnert an ein Bauklötzchenspiel in Wildwestmanier. So bitter es ist, die Schritte der Planung in den vergangenen 20 Jahre zu rekapitulieren, so wichtig ist es. Denn anders als beim Gängeviertel in Hamburg oder beim Spreeufer in Berlin-Kreuzberg fand der Ausverkauf der Stadt hier nahezu geräuschlos statt, abmoderiert in sogenannten Werkstattverfahren. Deswegen eine dringende Leseempfehlung für die neue Ausgabe der Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt, in der sich Alexis Hyman Wolff, Achim Lengerer und Yves Mettler in " Am Rande von Europa City" mit dem Berliner Quartier beschäftigen. "Widerstand hätte sich gelohnt" wird darin ein Graffito zitiert. Vermutlich. Laura Weißmüller
"Die magische Reise": Moderner Klassiker ohne Worte
Es steht kein einziger Buchstabe in diesem Buch und doch versteht man jede Seite sofort. Die sepiabraunen Großstadtansichten und Wohnungsinterieurs, in denen sich das Mädchen langweilt, weil die Erwachsenen in Bildschirme starren, arbeiten, den Haushalt versorgen und deshalb keine Zeit zum Spielen haben mit dem knallroten Spielzeug, das doch die erlösende Flucht verspricht. Dann findet das Kind einen roten Stift, und der ist magisch: Sie malt eine Tür an ihre Kinderzimmerwand und tritt hindurch in eine andere Welt: Plötzlich steht sie in einem sattgrünen Park, durch den ein Bächlein rinnt, über ihr leuchten blau chinesische Lampions. Hier packt einen die erste von drei Bilderbuchgeschichten des amerikanischen Illustrators Aaron Becker so richtig, man kann nicht mehr aufhören dieses herrliche, bunte, fantasievolle Buch durchzublättern und die Abenteuer zu verfolgen, die das Mädchen dort erlebt: in einem Heißluftballon, unter Wasser und in kleinen Booten, alle vom Kreidestift in die Welt gezeichnet. Der Gerstenberg Verlag hat die drei seit 2014 erschienenen Einzeltitel "Die Reise", "Die Suche" und "Die Rückkehr" von Becker in einem einzigen Band versammelt. Das ist toll, denn unterbrochen werden will man bei diesem leisen Vergnügen wirklich nicht. Kathleen Hildebrand