79. Filmfestspiele von Venedig:Muss ja

Lesezeit: 4 Min.

Greta Gerwig (Babette, links) und Adam Driver (Mitte) spielen in "White Noise" ein Ehepaar mit Patchworkfamilie, das sich trotz Chemieunfall weiter durchs Leben wurstelt. (Foto: Wilson Webb/Netflix/Filmfest Venedig/dpa)

Noah Baumbach eröffnet das Filmfestival am Lido mit seiner Verfilmung von "White Noise" - Don DeLillos postmoderner Satire über Optimismus mitten in der Katastrophe.

Von Tobias Kniebe

Die Giftwolke ist dann doch recht eindrucksvoll. Tiefschwarz und riesenhaft verdunkelt sie fast den gesamten Himmel, die Hubschrauber zur Katastrophenbekämpfung, die davor herumschwirren, erscheinen wie winzige Insekten. Im Inneren des tödlichen Gasmonsters zucken violette Blitze. Die Menschen, die in ihren Autos auf den Highway geflüchtet sind und dort nun im endlosen Stau stehen, starren ungläubig gen Himmel - ein Schlüsselbild des Kinos seit der Erfindung des Katastrophenfilms, das Jahr für Jahr, so scheint es, unverzichtbarer wird.

Auch der Regisseur Noah Baumbach, bisher eigentlich nicht für groß angelegte Epen des Untergangs bekannt, sondern eher für menschliche Katastrophen im Familienkreis ( "Marriage Story"), mag in seinem Film "White Noise" nicht von dieser Einstellung lassen. Das Ende der Menschheit steht unmittelbar bevor, man spürt es in dieser Szene in jeder Pore. Und doch - zehn Tage später wird alles vorbei sein. Es gibt ein paar Tote zu beklagen, aber falls das Gift weiterwirkt, dann schleichend und unsichtbar. Das Leben in Amerika nimmt seinen normalen Gang wieder auf.

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Diese Stimmung des Weitermachens trotz allem, sie passt auch gut zur Eröffnung der 79. "Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica" in Venedig. Nach zwei Pandemie-Editionen mit strengen Auflagen, die bis zum Fiebermessen vor den Kinoeingängen führten, spürt man diesmal einen starken Willen zur Normalität, den man auch selige Verdrängung nennen könnte. Da wird zwar per Lautsprecherdurchsage noch "dringend empfohlen", während der gesamten Vorführung eine Maske zu tragen. Aber bevor man weiß, ob dem auch jemand folgen wird, geht gnädig das Licht im Saal aus.

Sich kollektiv darüber einig werden, wie schlimm eine offensichtliche Bedrohung eigentlich ist - das ist für die Menschheit schließlich keine einfache Sache. Dieses sehr zeitgemäße Problem hat Noah Baumbach in einem Roman entdeckt, der nun auch schon mehr als 25 Jahre auf dem Buckel hat: Don DeLillos große postmoderne Satire "White Noise". Darin kommt die eindrucksvolle Giftwolke vor, die eines Tages in der Nähe der verschlafenen Universitätsstadt im Mittleren Westen aufsteigt, wo der Erzähler Jack Gladney als Professor für "Hitler-Studien" lehrt und mit seiner großen Patchworkfamilie lebt.

Ein betrunkener Trucker rast in einen Güterzug, der hochtoxische Chemikalien transportiert, und Baumbach nutzt sein großzügiges Netflix-Budget, um ein wenig in diesen Bildern zu schwelgen: Metall kracht auf Metall, mit Wucht und Masse und Funkenflug und ohrenbetäubendem Knirschen. Das Gift, das dann ausbricht und erst langsam, dann immer schneller durch die Ritzen strömt, bevor alles explodiert und zu brennen anfängt, hat die Farbe und Konsistenz von Blut.

Der Supermarkteinkauf als symbolischer Akt für ein volles und pralles amerikanisches Leben

Und doch bestimmt dieses "Airborne Toxic Event" nicht alles, weder den Roman noch den Film. Hier wird mit dem Weltuntergang, den so viele Erzählungen der Gegenwart mit immer neuem Ernst und pathetischem Tremolo in der Stimme durchziehen, eher noch geflirtet. Vielleicht war das die Stimmung Mitte der Achtzigerjahre, aus der der Roman entstand. Wenn es damals nicht gerade um die Angst vor dem Dritten Weltkrieg (die hier aber völlig absent ist) ging, schien alles andere noch irgendwie handhabbar zu sein.

Jack Gladney, gespielt von Baumbach-Stammschauspieler Adam Driver, fürchtet sich zwar ständig vor dem Tod, aber doch nicht so sehr, dass er sein Familienleben mit seiner vierten Ehefrau Babette und den vier Kindern aus diversen Konstellationen, die bei ihnen leben, nicht mehr genießen könnte: das Chaos im Haus, das ewige Durcheinanderquasseln am Esstisch, die altklugen Fragen der Kinder und ihre Streitereien, besonders die gemeinsamen Ausflüge in den Supermarkt, wo immer Tonnen von Zeug gekauft werden müssen, ein symbolischer Akt für ein volles und pralles amerikanisches Leben.

Hier gelingt es Baumbach toll, die brillanten und unfehlbar zutreffenden Alltagsbeobachtungen DeLillos in Filmszenen zu übersetzen. In der Rolle der Ehefrau, die andauernd ihr Gewicht thematisiert, hat er seine Partnerin Greta Gerwig besetzt, wodurch die Figur etwas von ihrer doch wichtigen Fülle des prallen amerikanischen Lebens verliert. Auch anderes ließ sich nicht mehr ganz so gut übersetzen: die Satire des amerikanischen Campus-Lebens mit den Studien über Hitler und Elvis wirkt etwas aus der Zeit gefallen, an den Unis hat man dort inzwischen ganz andere Probleme. Und der Professorenfreund Murray Siskind, der die schönsten und klügsten philosophischen Sätze sagen darf, ist aus naheliegenden Gründen inzwischen schwarz (Don Cheadle).

Optimismus mitten in der Katastrophe: Das ist der hochaktuelle "White Noise"-Spirit

Der Film beginnt mit Siskinds Lektion darüber, warum Autounfälle im amerikanischen Film, trotz der Toten, die es dabei zu beklagen gibt, trotz der zerstörten Leben und Autos und Werte, der Feuerbälle und Totalschäden, ein fundamentales Zeichen für Optimismus sind - weil sie auch für das Voranschreiten der Technik stehen, für das Versprechen, dass der kommende Crash immer noch spektakulärer sein wird als der davor. Diesen Optimismus nicht nur beim Verdrängen kommender Katastrophen einzusetzen, sondern sogar dann, wenn man schon mittendrin ist - das ist der hochaktuelle "White Noise"-Spirit, der vielleicht hilft, auch das ewige Weiterwursteln der Gegenwart noch mal ganz neu zu verstehen.

"Das Gefühl, dass wir auf eine umfassende Katastrophe zusteuern, verlässt uns nicht", sagt der Erzähler am Ende des Films. "Aber wir hören nicht auf, Hoffnung zu erfinden." Aber: Muss man das nicht sogar, um überhaupt noch morgens aufzustehen? Der Film entlässt die Filmkundigen aus aller Welt mit dieser offenen Frage. Wie sehr diese aber bereit sind, selbst Hoffnung zu erfinden und Gefahren auch mal zu ignorieren, zeigt eine kleine Schlusszählung der Maskenträger im vollbesetzten Kinosaal. Allenfalls etwa fünf Prozent der Zuschauer haben noch eine auf. Der Rest setzt lässig auf das "White Noise"-Prinzip.

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