Angst verleiht Flügel. Das glaubt zumindest die Regisseurin Lola Cuevas (Penélope Cruz), die die beiden Hauptdarsteller ihres nächsten Films, Félix (Antonio Banderas) und Ivan (Oscar Martínez) bei einer Probe vor dem Dreh unter einen schwebenden Felsen setzt, zur Inspiration. Man hört den Kran quietschen, nur sind die beiden Männer nicht inspiriert, sondern starr vor Angst. "Competencia oficial" ist eine Komödie übers Filmemachen - herrlich selbstironisch werden hier drei klassische Typen des Kinos auf die Schippe genommen von Leuten, die es wissen müssen: Penélope Cruz' Regisseurin ist zickig und prätentiös, Banderas gibt den Superstar, bei dem man nie weiß, ob er ein Hohlkopf ist oder verschlagen, und der dritte im Bunde, Oscar Martínez, entschuldigt seinen Mangel an Erfolg mit der Dummheit des Publikums.
Zu den besten Momenten gehört jener, wenn geweint werden soll und Antonio Banderas wie eine Ballerina geschwind zu seinem Täschchen trippelt und in kindlichem Triumph eine kleine grüne Flasche zutage fördert: "Menthol! Hilft immer." Lola knurrt: Nicht in meinem Film. "Competencia oficial", von dem argentinischen Regie-Duo Gastón Duprat und Mariano Cohn inszeniert, ist mit Sicherheit das Lustigste, was der Wettbewerb der Filmfestspiele in Venedig in diesem Jahr zu bieten hat. Und das Leichteste.
Jamie Lee Curtis wird für ihr Lebenswerk geehrt und stellt den Horrorfilm "Halloween Kills" vor
Die 78. Mostra könnte eigentlich ein vergleichsweise angstbefreiter Ort sein, das Festival findet unter strengen Covid-Auflagen statt - nur jeder zweite Platz wird besetzt, das alle ihre Masken während der Vorführungen aufbehalten, wird in den Kinos tatsächlich durchgesetzt -, und einen Ausbruch hat es bislang nicht gegeben. Auf den Leinwänden aber regiert der nackte Horror. Vielleicht denkt Festivaldirektor Alberto Barbera ja, ein bisschen Splatter direkt nach dem Frühstück sei das beste Mittel, die Gäste des doch recht dicht bepackten Festivalprogramms in der zweiten Woche jeden Tag wieder schön wach zu rütteln. Sollten die Filme, die in die offizielle Auswahl gefunden haben, allerdings ein Spiegel des Allgemeinzustands der Welt sein, leidet die Welt an schlimmerer Schockstarre als Antonio Banderas unter dem Felsen.
Es sind zwei Arten von Schrecken, die im Wettbewerb aufeinandertreffen. Richtige Horrorfilme, wozu es gut passt, dass am Mittwochabend im Rahmen der Premiere von David Gordon Greens "Halloween Kills", der auf den alten "Halloween"-Filmen basiert, die Scream-Queen Jamie Lee Curtis mit einem Löwen für ihr Lebenswerk geehrt wurde. Und der Horror, den die Wirklichkeit birgt: Im ukrainischen Wettbewerbsbeitrag "Reflection" von Valentyn Vasyanovych, der 2014 während der Eskalation des Konflikts mit Russland spielt, foltern die russischen Militärs die ukrainischen Gefangenen; im in der frühen Sowjetunion angesiedelten Film "Captain Volkonogov Escaped" von Natasha Merkulova und Aleksey Chupov foltern sich die Russen gegenseitig. Es sind drastische Bilder, die sonst in einer solchen Häufung nicht auftauchen und aufs Publikum niederprasseln - bis es irgendwann ratsam erscheint, sich zu vergegenwärtigen, dass man hier nur kübelweise Kunstblut sieht. Ansonsten sind die Bilder fast nicht auszuhalten.
Versucht das Kino, irgendwelche Verarbeitungsprozesse in Gang zu setzen? Bei Ana Lily Amirpours "Mona Lisa and the Blood Moon" wüsste man wirklich nicht, welche das sein sollten. Sie zeigt ein koreanisches Mädchen, das seit seiner Kindheit in einer Anstalt in der Nähe von New Orleans in einer Zwangsjacke gefangen gehalten wird und in einer Vollmondnacht übersinnliche Kräfte dazu benutzt, endlich durchzubrennen - es ist aber unklar, warum sie das nicht längst gemacht hat. Sie gerät an eine Stripperin (Kate Hudson), die sofort beschließt, aus Mona Lisas Fähigkeiten Geld zu machen. Der Film ist zu laut, schlecht gespielt, und das Drehbuch hat entweder so viele Löcher wie ein Schweizer Käse, oder die Polizei von New Orleans ist zu dumm, um zu telefonieren.
Filmfestival in Venedig:Diesmal geht die Frau
Filmheldinnen im Modus "Freiheit": Kristen Stewart zeigt Prinzessin Diana bei ihrem letzten Weihnachtsfest mit den Windsors, und in der Neuverfilmung des Klassikers "Szenen einer Ehe" verlässt Jessica Chastain ihren Mann. Olivia Colman, immerhin, stiehlt nur eine Puppe.
"L'évènement" basiert auf dem Buch von Annie Ernaux, eine Geschichte über Abtreibung
Da ist Edgar Wrights Horrorfilm "Last Night in Soho", der außer Konkurrenz gezeigt wurde, schon ein anderes Kaliber - stylish auf jeden Fall. Seine Heldin Eloise (Thomasin McKenzie) liebt nämlich die Kleider und die Musik der Sechzigerjahre so sehr, dass sie, als sie endlich nach London an eine Modeschule kommt, sogar beginnt, die Ära zu erträumen, allerdings so intensiv, dass sie mit Knutschflecken aufwacht. Bald muss Sandie, die junge Frau, die Eloise in ihren Träumen erscheint, ihre Zukunftspläne beerdigen, sie wird kein Star in einem Club in Soho, sie wird Nutte, der vermeintliche Manager entpuppt sich als Zuhälter, und Eloise wird in der Gegenwart von untoten Freiern gejagt. Dahinter stehen vielleicht völlig reale Befürchtungen vor dem Verlust von Frauenrechten oder weiblicher Rache, vor Totalitarismus und Krieg. Edgar Wright beispielsweise scheint hier seinen Schrecken vor "Me Too" zu verarbeiten - aber weibliche Serienkiller sind in Wirklichkeit ziemlich selten.
Venedig zeigt Lady-Diana-Film "Spencer":Nicht nur lieblich
Weltpremiere des heiß erwarteten Lady-Diana-Films in Venedig: "Spencer" von Pablo Larraín zeigt sie als eine Frau, die fürs Dienen nicht geschaffen ist.
Audrey Diwan hat für "L'évènement" im Wettbewerb das Buch "Das Ereignis" von Annie Ernaux adaptiert: Anne (Anamaria Vartolomei) kann nur studieren, weil ihre Eltern sich in ihrer kleinen Bar in der Provinz dafür abrackern. Man sieht sie mit ihren Freundinnen im Studentenwohnheim, in extremen Nahaufnahmen, und anfangs ist sie noch ganz unbeschwert, obwohl sie ihre Tage nicht gekriegt hat. Bald weiß sie dann, dass sie schwanger ist und dass sie dann ihre Prüfung vergessen kann. Es ist nicht gleich offensichtlich, in welcher Zeit das spielt, die Mädchen könnten auch einfach auf Vintage-Klamotten stehen, bis Anne von ihrer Mutter ein paar alte Franc-Noten zugesteckt bekommt. Es ist 1963, und Anne findet niemanden, der ihr hilft oder mit dem sie auch nur offen reden kann. Ihr Arzt wendet sich ängstlich ab, die Freundin sagt: "Sei still, sonst gehen wir alle ins Gefängnis." Es ist 1963, Abtreibung ist strafbar, und Woche um Woche wird Anne mehr in die Enge getrieben, von der Einsamkeit und der verstreichenden Zeit, bis sie sich selbst mit einer Stricknadel zu Leibe rückt.
Die Angst, um die es hier geht, erhebt sich wie ein Zombie aus dem Grab: Marine Le Pen beispielsweise, Vorsitzende des Rassemblement National, will in Frankreich tatsächlich Abtreibungen erschweren, wie viele rechte Parteien in Europa, man muss gar nicht die Verbote in den USA bemühen. Als Le Pen vor einigen Jahren mal einen Vorstoß machte, sagte die damalige Gesundheitsministerin, es sei eine Rückkehr zu den Stricknadeln, die Le Pen da plant. Gerade in einem so blutigen Wettbewerb wie in diesem Jahr ist "Das Ereignis" eine Besonderheit. Warum eigentlich ist jede absonderliche Brutalität im Kino selbstverständlich, Abtreibungen aber nicht? Bei Audrey Diwan sieht man tatsächlich ungewöhnlich viel davon, doch sie geht mit dem Blut sparsam um. Das ist der Stoff, aus dem Alpträume sind - ein blutiger Haken und die Verzweiflung in Annes Augen.