Süddeutsche Zeitung

"Vanity sizing":Hab' 8!

Wie gewiefte Modedesigner Übergrößen abschaffen und den Frauen ihr Wunschmaß verkaufen.

Von Petra Steinberger

Die Nähte ächzen. "Und Sie sind sicher, es passt?", fragt die Verkäuferin. Die Heuchlerin. "Doch, natürlich." Nicht atmen. "Kein Problem." Und nicht bewegen. "Wollte sowieso abnehmen."

Die Verkäuferin soll weggehen. Der Knopf gibt gleich nach, wenn man noch länger redet, was ganz klar an der schlampigen Verarbeitung liegt. Aus Taiwan. Von unterbezahlten Arbeitssklaven gefertigt. Natürlich. Man kauft das Hemd trotzdem, weil es die richtige Größe hat, die unter 38. Die man ja beibehalten hat, in den letzten Jahrzehnten.

In Amerika heißt diese "richtige Größe" 8 oder weniger, in England 10 oder weniger, und alles andere ist nicht so wichtig.

Ärgerlich ist nur, dass die Normierung menschlicher Kleidergrößen von der Textilindustrie in einer Zeit festgesetzt wurde, in der die Menschen offenbar unnatürlich klein und dünn waren, wegen schlechter Ernährung und anderen Widrigkeiten - was bedeutet, dass diese Norm damals eindeutig zu niedrig festgesetzt wurde und also die meisten Frauen mit den Jahren immer schwerer hineinkommen in die Größe, die ihnen vorbestimmt ist, nämlich die kleinere.

Jetzt wurde in Amerika die Studie "SizeUSA" veröffentlicht, die erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg den Durchschnittsamerikaner landesweit bis ins Detail vermessen hat. Mit erstaunlichen Ergebnissen:

Amerikanische Körper expandieren, und zwar nicht nur horizontal, sondern vor allem vertikal. Jahrzehntelang lebten amerikanische (und andere) Frauen in der Wahnvorstellung, die weibliche Durchschnittsgröße sei eine 8, also die deutsche 36.

Jetzt stellt sich heraus, dass die 14, unsere 42, eher der Realität entspricht. Die 14. Bei der man sich praktisch schon mitten in den Übergrößen bewegt.

Es war die amerikanische Textilindustrie, die die Studie mitfinanzierte - zuletzt war jedes Jahr Kleidung im Wert von mehr als 28 Milliarden Dollar zurückgegeben worden, weil sie nicht oder nur schlecht passte. Man hofft, mit den Erkenntnissen der Studie neue Standardgrößen festlegen zu können und das Leben der Konsumenten wieder einfacher zu machen. Nur leider werden weibliche Konsumenten so nicht glücklicher.

Erstens wollen sie nicht vermessen und genormt werden wie, sagen wir mal, ein Marmeladenglasdeckel; und zweitens wollen sie keinesfalls mit der Wahrheit über ihre spätere Normgröße belastet werden. Sie wissen zwar, dass Standardisierung Vorteile hat, weil sie Zeit spart und Geld und man nicht alles umtauschen muss. Aber sie würde manchmal auch die satte 14 bedeuten.

Es stellt sich heraus, dass die Textilindustrie selbst, in komplizenhaftem Verbund mit ihren Konsumentinnen, den Markt verwirrt hat - mit "vanity sizing", der Körpervermessung im Namen der Eitelkeit: Immer mehr Modedesigner nähen immer häufiger Etikette mit immer kleineren Größen in immer größere Kleider. Denn weil es so aufwändig ist, den Körper an die 8 anzupassen, muss sich die 8 dem Körper anpassen.

Tammy Kinley von der Universität Nordtexas veröffentlichte vor ein paar Monaten eine Studie zu diesem Phänomen - und stellte unter anderem fest, dass "vanity sizing" da zunahm, wo die Kleidungspreise stiegen. Wer mehr zahlt, kauft sich die kleinere Größe. Weil es inzwischen fast jeder Designer anders macht, kann man hemmungslos zwischen 10, 8 oder sogar 6 wählen, ohne Diät.

Entgegen aller Marktgesetze scheinen die Käuferinnen die Konfusion hinzunehmen, der Wohlfühlfaktor ist ihnen allemal wichtiger als die normierte Wahrheit. Und alle sind glücklich: Designer erschmeicheln und erschummeln sich die Loyalität ihrer Kundinnen, die Geschäfte verdienen daran - und Frauen bekommen für ihr Ego eine unsterbliche Acht.

Natürlich gibt es einige Selbsthilfegruppen, die sich über "vanity sizing" empören. Weil diese Praxis die von Modemagazinen und magersüchtigen Models sowieso schon indoktrinierten Teenies vollends in die bulemische Abhängigkeit von Äußerlichkeiten treibe. Oder so.

Aber in Wirklichkeit liegt die Genialität des "vanity sizing" in seinem Paradox. Im Verbund mit der Textilindustrie haben Frauen es geschafft, ihr Stück Kuchen zu behalten, zu essen und dabei nicht zuzunehmen. Sie haben das Korsett der Standardisierung überwunden; sie haben rationales Normdenken in kreative Zufälligkeit verwandelt; sie haben ganz persönliche Maßeinheiten über die anonyme Massenkonfektionsgröße gestellt.

Und andererseits haben sie sich völlig jener Kleidergrößenverordnung unterworfen, die sie doch selbst gerade so phantasievoll unterwandert hatten. So was muss man erst mal hinkriegen.

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Quelle:
SZ vom 03.03.2004
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