Vanessa Beecroft über Obsessionen:"Ich mag es, benutzt zu werden"

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Echo aus einer fernen Traumwelt: Die Performancekünstlerin Vanessa Beecroft spricht über nackte Models, Pickel und Fältchen, Heißhunger und Fasten in der Wüste.

Eva Karcher

Das Postfuhramt in Berlin-Mitte. Schöne Menschen stehen Schlange und wedeln mit ihrer Einladungskarte, auf der sich dunkel- und hellhäutige Frauenkörper zu zwei weltbekannten Initialen fügen. Drinnen posiert die Künstlerin der pikanten Choreographie blass und mit strengem Haarknoten vor ihrer Fotoarbeit. Vanessa Beecroft trägt ein Kostüm von Martin Margiela, was schon deshalb für sie spricht, weil sie eine Ausstellung eröffnet, die sie im Auftrag des Luxuskonzerns Louis Vuitton realisiert hat. Im aufgekratzten Smalltalk-Lärm klingt ihre hauchzarte Stimme wie das feine Echo aus einer sehr fernen Traumwelt.

Was hat Frau Beecroft da wieder angestellt? (Foto: Foto: dpa)

SZ: Mrs. Beecroft, in Ihren Performances verharren fast nackte junge Frauen reglos und stundenlang in einer bestimmten Pose. Warum zwingen Sie die Mädchen zu diesen Prozeduren?

Vanessa Beecroft: Sie folgen einem Ritual, das ich ihnen vorschreibe. Bei den Performances, die meinen Videos und Fotoarbeiten vorausgehen, gibt es klare Regieanweisungen: Sprich nicht, lache nicht, keine Blickkontakte. Steh gerade so lange du kannst, bewege dich so wenig wie möglich. Musst du dich setzen oder hinlegen, dann nie gleichzeitig mit einem anderen Mädchen auf der Bühne. Wenn meine Modelle also müde werden, sind sie es, die - wenn auch unfreiwillig - die Regeln brechen. Meine Arbeiten enthalten dieses masochistische Moment, das Rituale des Körperdrills eben so mit sich bringen. Immer ist da ein Augenblick von Isolation und Einsamkeit. Aber glauben Sie jetzt nicht, dass ich kalt oder voyeuristisch bin! Ich fühle sehr mit meinen Modellen, ich leide mit ihnen, während sie nackt sind, bin mit ihnen unglücklich. Ich tue eben nur, was ich tun muss, in meiner Arbeit an meine Grenzen zu gehen.

SZ: Was war die Herausforderung Ihrer jüngsten Kooperation mit dem Luxuskonzern Louis Vuitton?

Beecroft: Sie war schon dadurch, dass sie im Auftrag entstand, ein grenzüberschreitendes Experiment. Es gab zwei Performances mit dreißig dunkel- und weißhäutigen Frauen im Flagshipstore in Paris. Im Laden habe ich mich fast bedroht gefühlt, zu viele Schuhe, zu viele Taschen. Aber andererseits mochte ich es auch, es war ein wenig wie in einem Kriegsgebiet. In diesem Ambiente wirkten die Mädchen jedenfalls besonders zerbrechlich. Man sah, wie sie darum kämpften, ihre Positionen zu behalten. Es waren übrigens keine Models, das ist wichtig. Wenn man sie aus der Nähe betrachtete, sah man ihre Mängel genau, Härchen auf den Beinen, Pickel, Fältchen, kleine Polster. Ich wollte diesen Bruch. Ein menschliches Element dem Perfektionismus der Mode gegenüber.

SZ: Wer hat hier wen instrumentalisiert, Sie Ihren Auftraggeber oder umgekehrt er sie?

Beecroft: Sie meinen, ob ich von Louis Vuitton benutzt wurde? Ja, und sogar günstig, denn sie zahlten nicht mehr als ein Museum. Aber ich mag es, benutzt zu werden! Warum denn nicht? Im Grunde war es wie immer: Ich plane jede Bewegung so genau wie möglich - dann lasse ich los.

SZ: Warum treten Sie in Ihren Performances nie selbst auf?

Beecroft: Weil ich es vorziehe, durch andere zu sprechen. Durch 100 nackte Mädchen im Raum. Es entsteht eine Art Superporträt, das zwar vielfältige Bezüge zu mir aufweist, aber kein Selbstbildnis im klassischen Sinn ist. Sondern ein Bild, das gesellschaftliche Codes widerspiegelt, Schlankheitsideale, Schönheitsnormen. In dem Augenblick, in dem ich mit meinen Performances begann, existierte das Thema Schönheit für mich nicht mehr. Ich halte es einfach nicht aus, mich damit zu quälen. Die Mädchen tun das an meiner Stelle. Sie sind meine Beschützerinnen.

SZ: Wovor bewahren sie Sie?

Beecroft: Ich ertrage keine Spiegel in meinem Haus. Wenn ich in Hotels mit großen Spiegeln komme, könnte ich ausflippen. Ich ziehe es vor, mich selbst durch die Augen der anderen wahrzunehmen. Sie sind meine Spiegel.

SZ: Aber Sie sind doch eine attraktive Frau!

Beecroft: Das finde ich nicht. Meine Mutter ist eine Schönheit. Die typische theatralische Italienerin eben. So sieht sie auch aus, schwarzhaarig, mit schwarzen Augen in einem klar geschnittenen Gesicht. Ich dagegen ähnele eher meinem Vater, einem britischen Dandy, den ich zum ersten Mal mit fünfzehn in London besuchte. Eigentlich sollten wir alle lernen, nicht mehr über Hässlichkeit nachzudenken.

SZ: Haben Sie eine Vorstellung, wie man so etwas lernen könnte?

Beecroft: 2005 war ich für mein neues Projekt VB South Sudan zum ersten Mal in Afrika. Dort habe ich eine unglaubliche Erfahrung gemacht. Als man erfuhr, dass ich noch stillte, weil mein zweiter Sohn Virgil damals erst ein paar Monate alt war, brachte man mich in ein Waisenhaus. Dort gab ich zwei schwarzen Säuglingen die Brust. So entstand das Porträt von mir als Weiße Madonna mit zwei schwarzen Babys im Arm. Es war sehr berührend. Ich empfand die Menschen dort als heilend in ihrer Herzlichkeit. Sie sind schön, weil sie überhaupt nicht selbstsüchtig sind. Sie haben so viel Seele. Unsere Gesellschaft dagegen lässt solche Regungen kaum noch zu. Wir fixieren uns viel zu sehr auf Äußerlichkeiten.

SZ: Vielleicht liegt hier der Schlüssel für das zunehmend zwanghafte Verhalten von immer mehr Menschen.

Beecroft: Für die USA kann ich das nur bestätigen. Es gibt immer mehr Zwangsneurotiker jeder Art. Und es geht nur noch um das eine: gewinnen oder verlieren. Mein Mann Greg will mit mir und unseren Söhnen Dean und Virgil nach Los Angeles ziehen. Aber davor habe ich richtige Angst, weil das der Ort mit den extremsten Obsessionen ist. Es reicht mir schon, im Supermarkt die Regale mit den Magazin Covers anzusehen. Was für eine Freakshow!

SZ: Spielen Sie auf die Hollywoodmania der Double-Zero-Untergrößen an? Den extremen Magerwahn?

Beecroft: Ich versuche, die Regeln zu verstehen. Die Art, wie Mode bestimmte Körpertypen fetischisiert, finde ich grausam. Aber ich würde sie nie imitieren, denn das hat nichts mit Askese zu tun. Was mich interessiert, ist die spirituelle Erfahrung des Fastens. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel zwei Wochen lang in der Wüste gefastet. Danach musste ich für mein Sudanprojekt nach Afrika reisen, wo ich wieder nichts aß, weil ich das Essen ekelhaft fand und mich nicht damit vergiften wollte. Von der Dritten in die Erste Welt und beide Male nur ein Thema: Essen! Verrückt, nicht? Es war eine extreme Erfahrung. Ich konnte an zwei Orten fasten, an einem, weil ich wollte, am anderen, weil ich musste. Nach dieser Zeit hatte ich fünfzehn Kilo abgenommen. Ich war richtig dünn und fühlte mich, als sei ein Wunder geschehen.

"Derzeit beschäftige ich mich damit, wie man 'gute' Bakterien im Körper kultiviert": Lesen sie weiter über Frau Beecroft und ihre Kunst.

SZ: Warum haben Sie dieses Verlangen, mager zu sein?

Frieren für die Kunst: Die nur mit Nylonstrumpfhosen bekleideten Modelle der Performance "VB55". (Foto: Foto: AP)

Beecroft: Damit, eine bestimmte, modische Silhouette zu erreichen, hat es jedenfalls weniger zu tun. Schon als Kind machte ich Zeichnungen von sehr dünnen Mädchen, war selbst aber dick. Als Teenager fing ich dann an, unter massiven Essstörungen zu leiden. Ich habe ein paar Mal versucht, mich zu übergeben, aber es war zu anstrengend. Ich bin keine Bulimikerin. Stattdessen habe ich nach Fressorgien exzessives Fitnesstraining gemacht, bin pausenlos gerannt und geschwommen oder habe mich stundenlang mit Aerobic gequält. Ich glaube, meine Mutter ist für meinen Esszwang verantwortlich. Wir lebten streng makrobiotisch. Es gab selbstgemachtes Brot, Körner und überwiegend rohes Gemüse. Kein Fleisch, keine Pasta, schon gar nicht Schokolade. Genau darauf entwickelte ich später Heißhunger, auf fettes, süßes Junkfood. Wenn ich es jetzt in meinem Kühlschrank finde, werfe ich es sofort weg.

SZ: Besser, als es in sich hineinzustopfen.

Beecroft: Ja. Derzeit beschäftige ich mich damit, wie man ,,gute'' Bakterien im Körper kultiviert. Ich bemühe mich, keine Proteine, keinen Zucker und nur rein vegetarisch zu essen. Außerdem auf Kaffee, Wein, und überhaupt das ganze social eating zu verzichten. Aber immer wieder habe ich Rückfälle. Es ist ein ewiger Kampf. Ich versuche, Essen durch Fasten zu unterbrechen. Hungern kann ja auch high machen. In einer bestimmten Phase fühlt man sich leicht, man glaubt, zu schweben, man fühlt sich immer körperloser und hat Lust, zu tanzen. Es ist ein sehr euphorischer Zustand, ich habe ihn erlebt. Aber man kann ihn leider nicht behalten, es sei denn, man würde sich zu Tode hungern. Bei mir war es so, dass ich mich vor Schwäche auf nichts mehr konzentrieren konnte. Spätestens an diesem Punkt hatte ich das dringende Bedürfnis, mich wieder zu erden.

SZ: Was taten Sie?

Beecroft: Wieder essen. Und Sport machen. Allerdings habe ich inzwischen weniger Zeit zu trainieren, weil ich so viel wie möglich mit meinen Kindern zusammen sein will. Ich versuche, allmählich zu lernen, nicht mehr so extrem zu sein. Jetzt habe ich Yoga entdeckt, weil es sanfter ist, eine Mischung aus Meditation und Bewegung. Aber selbst dabei besteht die Gefahr, dass ich nicht mehr aufhören kann.

SZ: Sie sind eine Zwangsneurotikerin.

Beecroft: Ja. Obsessionen sind Teil meiner Charakterstruktur. Alles, was ich mache, kann zu einem Zwang werden. Zum Beispiel habe ich eine Zeitlang in großen Mengen mit Kräutern homöopathisch experimentiert. Unter anderem nahm ich Ignatia amara, weil es gegen Nervosität helfen soll. Aber ich habe übertrieben, und meine Symptome verstärkten sich, es wurde schlimmer als vorher.

SZ: Gibt es noch einen anderen Teufelskreis?

Beecroft: Ich leide unter Waschzwang. Manchmal wasche ich mich stundenlang und fühle mich trotzdem noch schmutzig. Eine Astrologin, bei der ich war, erklärte mir, ich müsste mit meinen Händen in der Erde wühlen. Weil niemand im immer gleichen Zustand verharren kann. Immer pur und perfekt, das geht nicht. Man muss auch fallen können.

SZ: Haben Sie ihren Rat befolgt?

Beecroft: Ich habe es versucht. Es hat wenig genutzt. Dennoch, und obwohl ich mehrmals im Jahr faste, fühle ich mich immer wieder dreckig. Alle meine Zwänge folgen demselben destruktiven Muster aus Schuldgefühlen, Scham und Selbsthass. Ein Circulus vitiosus, aus dem ich mich noch nicht ganz befreit habe.

SZ: Warum ist es so schwer?

Beecroft: Wenn ich das wüsste. Diese Mechanismen sind etwas, mit dem ich jenseits von Disziplin, Erfolg, Wohlstand immer noch nicht umgehen kann. Eine Sucht, wie Alkohol oder andere Drogen. Sie sind nicht nur ein psychisches Problem, glaube ich. Sondern ein biologisch-physisches. Es betrifft den eigenen Körper. Fast niemand akzeptiert sich doch selbst, noch weniger, wenn er jung ist. Man möchte seiner eigenen Unzulänglichkeit, seinen echten und vermeintlichen Mängeln entkommen. Es ist ein Akt der Rebellion, leider ausweglos, weil er sich autoaggressiv gegen einen selbst richtet.

SZ: Aber wird man mit zunehmendem Alter nicht etwas toleranter, auch sich selbst gegenüber?

Beecroft: Ich hoffe. Mein Traum ist, dass mein Körper sich, wenn ich älter werde, an eine bestimmte Routine des Essens gewöhnt und vielleicht insgesamt etwas schlanker wird als jetzt. Mein Ideal wäre, endlich ganz in der Gegenwart leben zu können, ohne diese ständigen Zweifel und Ängste. Das habe ich in Afrika erlebt: Die Menschen dort sind wirklich präsent, in jedem Augenblick. Weil sie schon morgen tot sein könnten. Es war eine großartige Erfahrung.

SZ: Ihre Obsessivität zeigt eigentlich auch, wie viel Kraft Sie haben.

Beecroft: Ja, aber ich muss lernen, sie anders einzusetzen, nicht nur für diese manischen Aktivitäten.

SZ: Helfen Ihnen Ihre Performances nicht dabei?

Beecroft: Das meint mein Mann auch immer! Er glaubt, sie wären eine Art Therapie und hätten mich eigentlich längst von meinen Komplexen befreien müssen. Schließlich hätte ich inzwischen ja Dutzende gemacht. Aber so einfach ist das nicht. Leider kann ich mit Greg nicht darüber sprechen. Er ignoriert meine Phobien inzwischen total, will nichts mehr davon hören und sehen. Er möchte nicht mehr damit konfrontiert werden. Dabei spürt er genau, wann ich mich hässlich fühle und wann schön. Aber er macht mir keine Komplimente, wenn ich gut aussehe, weil er sich nicht auf solche Spiele einlassen möchte, wie er sagt. Stattdessen muss ich mich ihm gegenüber laufend rechtfertigen. Dabei bräuchte ich jemanden, der mir zuhört. Am schlimmsten ist es, wenn mich dieses Gefühl der Scham überfällt. Es wäre schön, jemand zu haben, der es versteht und mir hilft, es zu überwinden.

SZ: Gibt es denn niemanden?

Beecroft: Nein, weil ich selbst bisher immer alle Menschen zurückgestoßen habe, die versucht haben, sich mir mit diesem Thema zu nähern. Fatalerweise genau aus diesem Schuld- und Schamgefühl heraus. Aber allmählich wird es leichter. Jetzt, spreche ich ja sogar öffentlich darüber. Vielleicht kann ich so eine Diskussion in Gang setzen, denn ich glaube, dass Millionen Männer und Frauen unter ähnlichen Zwängen leiden.

SZ: Kann es sein, dass die Rituale früherer Religionen die Kontrollmechanismen von heute sind?

Beecroft: Hm, spannende Frage. Vielleicht waren Rituale früher genau das: Sie dienten der Überwachung. Nein, ich glaube, Phänomene wie Essstörungen gab es schon immer. Sie wurden nur nicht so genannt. Aber sicher ging man damals nicht so dekadent mit Nahrung um. Die massenweise hergestellten Lebensmittel der Gegenwart sind einfach Abfall. Kein Wunder, dass die Leute krank und fett werden und an Krebs sterben. Nicht das Individuum allein ist in diesem Teufelskreis gefangen, der gesamte kapitalistische Kreislauf der Nahrungsproduktion ist degeneriert.

SZ: Gibt es trotz allem Augenblicke, in denen Sie glücklich sind?

Beecroft: Ja. Wenn ich mit meinen Kindern zusammen bin. Die einzige Liebe, die mich glücklich macht, ist die zu meinen Kindern.

Vanessa Beecroft wurde 1969 in Genua geboren. Sie wuchs bei ihrer Mutter in Italien auf, wo sie Kunst an der Brera in Mailand studierte. Bereits ihre erste Performance 1993 in der Mailänder Galerie Inga-Pin mit dreißig Mädchen, die ihre Kleider trugen, erregte Aufsehen. Bis heute beschäftigt sie sich in Performances, Fotoserien und Filmen mit den Codes von Schönheit und Qual, mit Ritualen des Drills und der Körperperfektionierung. Ihre Tableaux Vivants zeigen junge, oft superschlanke, meist bis auf High Heels und Dessous unbekleidete Frauen. Die Wahlamerikanerin gilt als brillante Architektin raffiniert unterkühlter Erotik und ist eine der bedeutendsten Künstlerinnen der Gegenwart mit Ausstellungen in allen großen Museen. Vanessa Beecroft lebt mit ihrem Mann Greg Durkin und den beiden Söhnen Dean und Virgil auf Long Island.

© SZaW vom 21./22.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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