Vampir-Theater:Was tun nach der Orgie?

Mit morbider Romantik haben diese Vampire wenig zu tun. Was Claudia Bosse ihren Zuschauern mit "Vampires of the 21th Century" antut, ist eigentlich eine Frechheit: Es ist die totale Überforderung.

S. Drees

Eine junge Frau beschreibt ihr Leben im Futur. Wer wird sie sein, was wird ihr passieren, welche Menschen werden ihren Weg kreuzen? Lautsprecher erzählen ihre Geschichte. In dem Raum gibt es nur auf den ersten Blick eine Trennung zwischen Publikum und theatralem Geschehen. Zwischen den Stuhlreihen agieren die Spieler, während eine laszive Stimme zu hören ist. Die junge Frau wird einen Mann kennenlernen. Sie werden sich lieben. Und dann wird sie ihm in einem Restaurant den Kopf abschlagen.

Vampir-Theater: So romantisch wie in "Twilight" (Bild) sind die Vampire in Claudia Bosses Theater nicht. Ihr Theater ist keine in Mythen-Watte verpackte Schauergeschichte.

So romantisch wie in "Twilight" (Bild) sind die Vampire in Claudia Bosses Theater nicht. Ihr Theater ist keine in Mythen-Watte verpackte Schauergeschichte.

Die Gegenwart ist im Katz-und-Mausspiel von Realität und Fiktion immer schon impliziert. In Claudia Bosses Inszenierung "Vampires oft the 21th Century oder was also tun?" grätscht sie mit voller Wucht in die Utopien der Spieler, die in verbalen Snapshots und langen Wortkaskaden ihr Leben narrativieren. Mit der Gegenwart kommt immer auch die Gewalt, das Zerstörerische ins Spiel.

Claudia Bosse nennt das Autofiktion. Ein Schlagwort, mit dem die Regisseurin gerne arbeitet. Ein anderes ist das kompositorische Narrativ. Das alles klingt, wie der Raum aussieht, den Bosse zusammen mit ihrem Wiener Produktionskollektiv theatercombinat gewählt hat: technisch, kalt, durchstrukturiert. Im Forum Freies Theater Düsseldorf, mit dem das Stück koproduziert wurde, findet sich eine karge Fläche. Darauf vier Performer, zwei Frauen, zwei Männer. Die Struktur spielt eine Hauptrolle, sofern man in diesem apokalyptischen Szenario von Rollen sprechen kann. In Bedeutungseinheiten, Modulen des intertextuellen Spiels werden Physis und Worte verschnitten. Mal illustriert der Text die Spur des Körpers, mal kontrastiert er sie.

Claudia Bosses Vampire haben wenig mit dem in jüngster Mediengeschichte zigfach auferstandenen Wiedergänger zu tun. Keine morbide Romantik, keine in Mythen-Watte verpackten Schauergeschichten. Der Schauer ergibt sich aus dem Grenzgängertum der Spieler, die als Intellekt-Zombies durch ihr Lebenssystem wüten.

Der Raum wird in wechselnden Formationen eingenommen. Die Spieler deklamieren Textfragmente, die von Seneca über Marx bis Baudrillard reichen, sie schreien sie heraus oder spüren dem Rhythmus der Worte nach, sind mal mehr Verkünder, mal mehr Spieler. Sie rücken den Anwesenden im direkten wie übertragenden Sinne zu Leibe: In konzentrischen Kreisen nähern sich Caroline Decker, Frédérik Leidgens, Yoshi Maruoka und Nora Steinig dem Kern eines Gedankens, eines Statements, eines Kontextes. Versucht man diesen Bewegungen zu folgen, wird schnell klar: Man kann nur scheitern. Marxismus, Terrorismus, die Theorie und das System, Veräußerung, Aktionismus, Gewalt. Und immer sagt der Schmerz: Ich bin schon da.

Das Theater soll reinhauen und weh tun

Was Claudia Bosse tut, ihren Spieler und dem Publikum antut, ist eigentlich eine Frechheit. Es ist die totale Überforderung. Eine Weltmaschine, deren personifizierte Instrumentarien mal zu den Klängen von Saddam Husseins "Befreit-das-Volk"-Schreien während seiner Verurteilung tanzen, dann auf dem Schoß eines Zuschauers sitzen und nach der ultimativen Selbstoptimierung lechzen. Es ist eine Möglichkeit, heute politisches Theater zu zeigen, im wahrsten Sinne zu produzieren. Nicht eine Narration, sondern viele. Und nur solche, die sich im Kopf des Zuschauers immer wieder neu zusammensetzen. Bosses Theater soll vor allem eins: reinhauen. Weh tun.

Das ist mutig: Dieses Riesenarchiv an Sprache, demaskierend und erschlagend, ist im zeitgenössischen Theater eher unchic. Der Gestus ist fast nie ironisch gebrochen, er zwinkert nicht schelmisch, sondern donnert in Brusttönen der Entäußerung. Das hat nur selten etwas vom absurden Gegenwartskarussell eines René Pollesch. Wie ihre Tragödien-Reihe, in der die Regisseurin Stoffe aus Antike, Renaissance und Barock zu kollektiv erfahrbaren Diskursräumen modellierte, ist "Vampires of the 21th Century" mehr eine Aufforderung denn eine Inszenierung.

Den Höhepunkt bildete 2008 die Inszenierung der "Perser" von Aischylos, in der 300 Bürger einen riesigen Chor formierten. Die Rituale der Antike und ihre Spiegelung in der Gegenwart, sie waren lange ein Kernpunkt von Bosses Arbeit. Die vierte Wand, auch immer ein Schutzraum, wird nicht eingerissen. Sie ist gar nicht erst vorhanden. 1996 gründete Claudia Bosse zusammen mit drei anderen Künstlern das theatercombinat. Als künstlerische Leiterin formt sie mit Tänzern, Performern und Sound-Designern inzwischen einen flexiblen Bühnenkunstkörper, der Theater in leeren Fabrikhallen, Ruinen oder Schlachthöfen zeigt.

"Vampires of the 21th Century" ist eigentlich kein Theaterstück. Es ist zugleich Anfang und Ende einer Dialogschlacht, ein künstlerischer Wiedergänger. Er steht für eine kleine Theateroffenbarung: Die Grenzen des Mediums werden permeabel. "Was tun nach der Orgie?", schreit eine Spielerin ins Publikum. Eine Antwort könnte lauten: Ins Theater gehen. (Die Produktion ist derzeit in Wien im Kartographischen Institut zu sehen.)

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