Lyrik aus Belarus:Vom Vorgang des Benennens

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Die Verstorbenen streunen durch die Verse: Demonstrant in Minsk im Oktober 2020. (Foto: STRINGER/REUTERS)

Die belarussische Lyrikerin Valzhyna Mort lebt und lehrt in den USA, ihre Gedichte schreibt sie in zwei Sprachen. Jetzt ist ihr neuer Gedichtband erschienen: "Musik für die Toten und Auferstandenen".

Von Nico Bleutge

Die Wiederholung ist ein zwiespältiges Phänomen. Sie kann die Macht der Sprache zeigen und die Ohnmacht der Sprechenden, die Unfähigkeit, Kreisläufe von Gewalt oder in die Sprache eingelagerte Ressentiments aufzubrechen. Wiederholung hypnotisiert und insistiert. Sie verleiht aber auch der kindlichen Hoffnung Ausdruck, man könne so lange an den Wörtern rütteln, bis sie nachgeben und sich verwandeln. Oder wenigstens die Erinnerung in sich verwahren.

Für die Dichterin Valzhyna Mort gleicht das Schreiben einem Akt sprachlicher Gewalt. Wer dichte, zwinge die Sprache, etwas zu tun, was sie nicht tun will, etwas zu sehen, was sie nicht sehen will. Seit vielen Jahren geht Mort der Geschichte der Gewalt in Belarus nach, ihre Erkundungen zwischen den Sprachen sind dabei immer an die eigene Familiengeschichte geknüpft.

So hat sie sich nach und nach eine eigene Kammer eingerichtet, einen Raum in sich selbst, "dort räumt die Erinnerung - / illegale Zeitmigrantin - / fleißig auf hinter der Einbildungskraft". Was die Sprecherin der Gedichte findet, sind Spuren der Großelterngeneration und Spuren ihrer eigenen Kindheit, Gedächtnissplitter, zu denen die Stimmen der Toten genauso gehören wie der Geruch von Äpfeln und Schokolade oder Reste der Imagination. Hier kann eine "Mondrippe" auf dem Küchentisch ruhen oder das Herz ein Oktopus sein.

Labiles Verhältnis von Nähe und Distanz

Einiges davon konnte man schon in Büchern wie "Tränenfabrik" (2009) und "Kreuzwort" (2013) entdecken, Auswahlbänden aus Morts bisherigem Schreiben, die Gedichte und Prosa gekonnt nebeneinander stellen. Nun hat sie ihre "Versuche in Ahnenforschung" noch einmal zugespitzt. Oft sind es kleine, bruchstückhafte Szenen, die etwas Inventarartiges haben. "Hier ist Grammatik, hier Orthographie / hier ein Fetzen Papier, ,Brot, Butter, Milch'". Valzhyna Mort lässt die Momente jedoch nicht für sich stehen, sondern arrangiert sie stets zu längeren Formationen. So gelingt es ihr, die Einzelheiten mit Reflexion anzureichern und ganze Kindheitsatmosphären aufzuspannen - ohne je der Illusion von Unmittelbarkeit zu verfallen, vielmehr halten die Verse das labile Verhältnis von Nähe und Distanz bewusst.

Dabei denken sie stets über den Vorgang des Benennens nach. Valzhyna Mort wurde 1981 in Minsk geboren, in eine Familie, in der russisch gesprochen wurde. Das Belarussische, die in der Sowjetunion unterdrückte Volkssprache, lernte sie erst, als sie in die Schule kam. Umso intensiver setzten sich die Wörter in jeder Faser des Körpers fest. "Die belarussische Sprache ist reich und voller klangvoller Texturen", notiert sie in einem der kurzen Prosatexte, die den Gedichten angefügt sind, "sie rasselt und zischelt wie ein Natternfeld. Sie hat Laute, die man mit keinem anderen Alphabet ausdrücken kann".

Trotzdem schreibt Mort, die seit vielen Jahren in den USA lebt und lehrt, ihre Gedichte stets parallel auf Belarussisch und auf Englisch. Das macht die Übersetzung zu einer großen Herausforderung. "Hier ist ein Korridor zwischen den Sprachen", heißt es in einem Vers. Und tatsächlich ist dieses Wandern von einer Sprache zur anderen immer wieder in den deutschen Übersetzungen spürbar. Die beiden Übersetzerinnen Katharina Narbutovič und Uljana Wolf zeigen es an einer Stelle sogar, indem sie die Übertragung aus dem Belarussischen neben die Übertragung aus dem Englischen setzen. Kleine Varianten - hier "Roggenbrot", dort "Graubrot", hier "die immerroten Kiefern", dort "ewig rote" - verdeutlichen die genaue Arbeit der Übersetzung.

Roher Dotter in einem Fabergé-Ei

Die Verstorbenen streunen derweil durch die Verse und machen durch kleine Wahrnehmungsmomente auf sich aufmerksam. Augenblickshaft kann die ganze Welt der "rundgesichtigen Vorfahren" lebendig werden. Es genügen eine Wählscheibe, eine Uhr, ein Wandradio, die in die Sprache geholt werden, und schon befindet sich die Sprecherin wieder in einer Plattenbausiedlung am Rand von Minsk. Man riecht den Chlor in den Schulfluren oder den Leim in den Amtsstuben. Manchmal streifen die Verse allzu bekannte Vorstellungen, etwa wenn die Wörter "als stumme Herde" am Rand des Gedichtes vorbeiziehen. Immer aber schafft es Valzhyna Mort, ihrer Sprache jene Mischung aus Härte und Leichtigkeit einzuschreiben, die ihr die vielen liedhaften Formen an die Hand geben, auf die sie sich beruft.

"Wo stamme ich her?", fragt die Sprecherin einmal. Doch statt erwartbare Begriffe wie "Heimat" und "Herkunft" zu verwenden, übersetzt das Gedicht die Frage in ein Geflecht aus Wiederholungen und Variationen. Das "Mutterland" ist hier ein "roher Dotter in einem Fabergé-Ei", während im Inneren der Zeilen Wortverschiebungen die Bewegung des Gedichtes vorantreiben . Aus der "Mutter" wird die "Motte" - aus dem "Geist" der "Gast". Und im Hintergrund dieser wundersam brüchigen Verse hört man die Stimmen anderer Dichterinnen und Dichter.

Valzhyna Mort: Musik für die Toten und Auferstandenen. Gedichte. Deutsch von Katharina Narbutovič und Uljana Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 142 Seiten, 15 Euro. (Foto: N/A)
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