Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Was für ein Sog, was für ein Rausch!

Anton Bruckner und Valery Gergiev helfen über die Stille hinweg. Mit einer grandiosen Einspielung von Bruckners Sinfonien.

Von Reinhard J. Brembeck

Die Stille der stillen Zeit in diesem Jahr zu ertragen, dürfte Klassikfreunden leicht fallen. Jede und jeder kann sie nämlich mühelos übertönen, die Stille. Ideal dafür sind die riesigen und sich gern in Riesenlautstärken aufbäumenden Sinfonien von Anton Bruckner. Dieser Komponist, der die Musikgeschichte wie ein Querstand stört, hat acht dreiviertel Sinfonien hinterlassen. Der vierte Satz seiner Neunten war durchskizziert und großteils vollendet, Leichenfledderer haben einzelne Notenbögen als Souvenirs weggeschleppt. Bruckner hat manche der Sinfonien in mehreren Fassungen vorgelegt, oft, weil sich Kritiker an seinen mit allen Konventionen brechenden Klangmonstern stießen. Fast 25 Jahre verbrachte Bruckner im Linzer Stift St. Florian, zu Füßen der dortigen Orgel ist er begraben. Also auf nach St. Florian! Das haben sich auch die Münchner Philharmoniker und ihr Chef Valery Gergiev gedacht und dort von 2017 bis 2019 die Sinfonien live aufgenommen, dokumentiert in einer Neun-CD-Box des orchestereigenen Labels. Die Philharmoniker haben einst einiges von Bruckner erstaufgeführt, der im russischen Repertoire sozialisierte Gergiev hat sich in seinen fünf Münchner Jahren mühelos und begeisternd in diese Riesenemotionswelten eingelebt. Zügig sind die Tempi, die Melodien betörend, die Weite ist maßlos, warm der Klang. Komplizierte Kontrapunktik wird traditionell eingemeindet, Gergiev entscheidet sich für die gängigen Fassungen, was bei der Dritten besonders bedauerlich ist. Aber was für ein Sog, was für ein Rausch! Man darf das nicht über Kopfhörer hören (arme Ohren!), sondern muss die Anlage voll aufdrehen, auf dass die Angst machende Weihnachtsstille sich gar nicht erst ausbreiten kann. Und die Nachbarn? Ja mei, man kann es nicht jedem recht machen.

Wem eine 9-CD-Box gegen die Stille nicht reicht, der möge sie durch diese 15-CD-Box ergänzen, die dem Pianisten Emil Gilels (1916-1985) gewidmet ist, es ist der zweite Teil einer Edition bei Profil/Hänssler, ganz dem russischen Repertoire gewidmet: Pjotr Tschaikowsky, Igor Strawinsky, Dmitri Schostakowitsch... Gilels kombiniert Furor mit Aggression, Genauigkeit, Dunkel, Dominanz, Härte, Gläsernem. Selbst wenn er sanft wird, bleibt all das immer hör- und spürbar. Dieser Pianist, von Stille keine Spur, betreibt Musik als Raubtierdressur.

Lästig sind Geschenke, die man nicht braucht und nicht will. Und dann die Skrupel, den Plunder einfach in die Restmülltonne zu stopfen, wo sie gegen jedes Biogewissen hingehören. Wer weise ist, bestellt sich seine Geschenke selbst. So wie das Frankfurter Ensemble Modern, eine der Großmeistertruppen für frisch komponierte Musik. Es feiert dieses Jahr sein vierzigjähriges Bestehen und hat deshalb bei vierzig seiner Lieblingskomponisten kurze Stücke bestellt: Bagatellen. Zusammen mit dem Dirigenten Ingo Metzmacher hat das Ensemble Modern diese 100 Minuten Musik überwältigend aufgenommen und als "Beschenkt" beim hauseigenen Label herausgebracht. Miniatur folgt pausenlos auf Miniatur, der Hörer wähnt sich in einem Hörspiel, das verspielt sämtliche Stile der Moderne durchwandert, von Atemgeräuschen bis hin zu Popmusik, "Merry X-EM" (Olga Neuwirth), "Maria durch ein Dornwald ging" und George Benjamins Traummusik über "Stille Nacht".

Der Lockdown hat ja auch Bachs Weihnachtsoratorium getroffen, in Kirchen zu singen ist gerade verpönt. Einen kleinen Ersatz bietet da der belgische Zigarrenraucher, Fado-Spezialist, Renaissanceliebhaber und Chordirigent Paul van Nevel mit seinem Huelgas Ensemble. Auf dem Drei-CD-Album "The Magic of Polyphony" (deutsche harmonia mundi) hat er seine Lieblingsstücke aus der Renaissance in Live-Aufnahmen versammelt - mit einem Ausflug zu Anton Bruckner. Stücke von ihm finden sich zwischen Raritäten (Fray José Vaquedano!) und Klassikern wie Cipriano de Rore, Orlando di Lasso und Claude Le Jeune. Die Fugger nannten ihre Truppe aus Lautenisten und anderen leisen Zupfinstrumenten "Stille Musik". Paul van Nevel schenkt seinen Hörern hier die vokalen Gegenstücke, die immer der Stille entgegenstreben.

Dass in jeder Stille auch immer der Tod steckt, hat Gérard Grisey (1946-1998) in seinem letzten Stück formuliert, den "Vier Gesängen um die Schwelle zu überschreiten": Quatre chants pour franchir le seuil. Eine Sopranistin, fünfzehn Musiker und sämtliche Klangfarben der Dunkelheit: Der Klangmagier Grisey war in seinen luminösen und magischen Stücken auf solche Unmöglichkeiten spezialisiert. Genauso wie es Barbara Hannigan ist, die Wundermusikerin, die nicht nur die aberwitzigste Vokalakrobatik als einleuchtende Selbstverständlichkeiten singt, sondern auch faszinierend dirigiert. Auf "La Passione" (Alpha) dirigiert sie Joseph Haydns gleichnamige Sinfonie und singdirigiert sowohl die todestrunkenen "Quatre chants" als auch Luigi Nonos nach der gleichnamigen Freiheitskämpferin benanntes Hoffnungsstück "Djamila Boupacha": Traurig sei es, beim Erwachen immer das gleiche zu sehen, es müsse etwas Anderes kommen, ein neues Licht. Diese Hoffnung vereint Christen, Kommunisten und Rebellen, dass nach der Stille dieser Tage das Neue eine Chance bekommt.

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