Süddeutsche Zeitung

Valery Gergiev:"Ich neige nicht dazu, Sachen halb zu machen"

Der neue Chefdirigent der Münchner Philharmoniker über russisch-deutsche Klänge und Missklänge, seine musikalischen Einflüsse und die Frage, warum er so gern mit einem Zahnstocher dirigiert.

Interview von MICHAEL STALLKNECHT

In seinem Münchner Hotel traut man sich an der Rezeption kaum, den Maestro auf dem Zimmer anzurufen. Die Aufzüge hätten geklemmt, sagt er, als er wie immer mit leichter Verspätung schließlich hinunterkommt. Doch wenn man ihm dann gegenübersitzt, konzentriert er sich sofort, wird das Gespräch auf der Stelle ziemlich intensiv.

SZ: Warum dirigieren Sie eigentlich oft nur mit einem Zahnstocher?

Valery Gergiev: Es geht nicht darum, was man in den Händen hält. Das Geheimnis findet in einem anderen Bereich statt. Ich dirigiere momentan auch nicht mit einem Zahnstocher, sondern mit einem kurzen Dirigierstab. Ein größerer Stab kann vielleicht helfen, dass man besser gesehen wird. Aber am Ende geht es darum, dass Orchester und Dirigent ein System entwickeln, um miteinander zu atmen.

SZ: Sie gelten als einer der meistbeschäftigten Dirigenten der Welt. Werden Sie genügend Zeit für die Leitung eines Orchesters wie die Münchner Philharmoniker finden?

Schauen Sie sich meinen Terminplan an. Ich habe sehr viel Zeit für die Philharmoniker reserviert, ich habe meinen Chefposten beim London Symphony Orchestra aufgegeben. Die Arbeit in Amerika habe ich deutlich reduziert, obwohl ich dort gern arbeite. Bei den Münchner Philharmonikern werde ich fünfundvierzig Konzert dirigieren, das ist nicht weniger als bei allen ähnlichen Chefposten auf der Welt. Mir geht es hier nicht um die Laune, noch ein weiteres wunderbares Orchester zu dirigieren. Ich neige nicht dazu, Sachen halb zu machen.

Wo sehen Sie das weitere Potenzial dieses Orchesters?

Die Philharmoniker haben in der Geschichte mehrfach gezeigt, dass sie eines der wichtigsten Orchester der Welt sind. Jeder redet über die glorreichen Jahre unter Sergiu Celibidache. Er hat einen einzigartigen Klang kreiert, der international als eines der Wunder der symphonischen Welt wahrgenommen wurde. Vielleicht gab es auch deshalb zu seiner Zeit nicht so viele Beschwerden über den Gasteig.

Aber Sie unterstützen den geplanten Umbau des Gasteigs ab voraussichtlich 2020?

Ich unterstütze vor allem die Idee, dass alles am Gasteig sehr vorsichtig getan werden sollte. Der Gasteig ist ein Ort, an dem schon viele Konzerte stattgefunden haben. Bevor die Stadt und der Freistaat etwas tun, sollten sie zweihundertprozentig wissen, was das Ergebnis sein könnte. Sowohl, wenn man einen weiteren Konzertsaal baut, als auch, wenn man den Gasteig umbaut. Das zweite Szenario birgt Risiken. Stellen Sie sich vor, man wendet Hunderte Millionen für den Umbau auf und stellt dann fest, dass der alte Gasteig besser war. Das wäre eine nationale Katastrophe. Deshalb ist es das Wichtigste, vorsichtig, intelligent und klug vorzugehen.

Ihre erste Spielzeit wird vor allem aus Begegnungen von russischem und deutschem Repertoire bestehen. Wo sehen Sie die Unterschiede?

Ich möchte zunächst die Gemeinsamkeiten betonen. Deutsche und russische Orchester spielen sozusagen tief. Die deutsch-österreichische Tradition erfordert einen sonoren Klang der Streicher und auch einen bestimmten Klang bei den Bläsern. Das Entscheidende ist nicht, wie die Orchester spielen, sondern wie die Komponisten komponieren. Komponisten formen die nationalen Traditionen, die Orchester folgen ihnen nur. In der russischen Tradition selbst gibt es auch Unterschiede: Man musiziert in Moskau anders als in Sankt Petersburg, Schostakowitsch, Tschaikowsky oder Rimski-Korsakow komponieren unterschiedlich. Aber es ist trotzdem eine riesige Tradition, und sie erzeugt das Sonore des russischen Orchesterklangs. Die Unterschiede zwischen den beiden Musikkulturen bestehen mehr im Detail. Es gibt Ähnlichkeiten zwischen Tschaikowsky und Schumann, geringere dagegen zwischen Tschaikowsky und Brahms. Rimski-Korsakow hat eine Nähe zu Wagner, Tschaikowsky dagegen kaum. Ich könnte eine Stunde mit Ihnen über so etwas reden. Aber das Ergebnis wird sein: Die deutsch-österreichische Tradition ist fabelhaft, und die russische ist es auch. Und wir werden uns auf diese beiden Traditionen konzentrieren, die beide europäisch sind.

Sie werden oft als wichtigste Figur des russischen Musiklebens beschrieben . . .

Nein, das ist nicht wahr. Die wichtigsten Figuren sind zehn bis fünfzehn Komponisten. Wir alle versuchen nur, ihr wunderbares Erbe zu verstehen. Aber auch die lebenden Komponisten sind mir wichtig, Leute wie Thomas Adès oder mein verstorbener Freund Henri Dutilleux. Wenn überhaupt, dann ist es das, was mich ein wenig wichtiger erscheinen lässt als andere. Es ist mir wichtig, dass meine Arbeit in Russland fokussiert ist auf die Ära, die nach Schostakowitsch folgt. Ich arbeite viel mit Rodion Schtschedrin oder Sofia Gubaidulina.

In jüngster Zeit gab es starke politische Spannungen zwischen Russland und westlichen Ländern. In welcher Weise beeinflussen sie auch das Musikleben?

Ich sehe da keinen Einfluss. Ich selbst war gerade in Stockholm mit dem Mariinski-Orchester, in Edinburgh mit dem London Symphony Orchestra, danach in Sibirien, China und Italien. Das Problem sehe ich eher darin, dass die europäische Einheit und Unversehrtheit vor einigen gewaltigen Fragen steht - vor fantastischen Möglichkeiten, aber auch vor potenziellen Problemen. Die historischen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind wichtig für Europa und die Welt. Das können wir nicht ändern. Sie sind wichtig schon wegen der beiden Weltkriege. Wir müssen alles tun, was es braucht, um einen weiteren großen tragischen Konflikt zu vermeiden. Groß meint: bis hin zu einem Dritten Weltkrieg, von dem ich hoffe, dass er nie, nie geschieht. Aber da hinein sollte viel Arbeit investiert werden, und zwar nicht nur von Diplomaten. Auch die Bedeutung der kulturellen Botschafter ist hoch.

Können Sie sich vorstellen, auch mit den Münchner Philharmonikern nach Petersburg zu fahren?

Natürlich, sie waren ja schon mal da, mit Christian Thielemann. Es gibt keinen Grund, die kulturellen Beziehungen zu beschädigen. Musiker wollen so etwas nicht.

Letzte Frage . . .

Lassen Sie mich noch etwas hinzufügen: Ich begrüße die großzügige Gastfreundschaft des deutschen Staates, wenn wir über die Migration reden. Aber das politische Gesamtbild ist alarmierend. Dabei rede ich nicht nur über München, halb Europa ist jetzt voller Spannungen. In Russland haben wir eine Million Migranten aus der Ukraine, also ein ähnliches Problem. Ich weiß nicht, ob wir all diese großen Probleme lösen können. Ich kann nur hoffen. Aber ich weiß nicht, ob der Prozess erfolgreich sein wird, alle diese Menschen zu integrieren. Die kulturellen Unterschiede sind enorm, und Europa ist vorwiegend christlich geprägt. Nun gibt es viele Diskussionen, ob Europa seine Identität verliert. Ich hoffe nicht. In Russland lieben wir deutsche Musik, weil wir empfinden, dass sie ein starker Ausdruck der deutschen Seele ist. Deshalb hängen die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland auch vom kulturellen Austausch ab. Das ist absolut essenziell in dieser Zeit. Wenn die Politiker sich nicht verstehen, heißt das nicht, dass die Völker sich nicht verstehen. Die Völker Russlands und Deutschlands haben meiner Meinung nach eine sehr breite Basis, um einander zu verstehen.

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Quelle:
SZ vom 17.09.2015
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