Uwe Tellkamp: "Der Schlaf in den Uhren":Mächte im Untergrund

Uwe Tellkamp: "Der Schlaf in den Uhren": Uwe Tellkamp hat zum Roman Pläne seiner fantastischen Welt mit Anteilen von Wirklichkeit gezeichnet. Sie finden sich auf dem Vorsatzblatt.

Uwe Tellkamp hat zum Roman Pläne seiner fantastischen Welt mit Anteilen von Wirklichkeit gezeichnet. Sie finden sich auf dem Vorsatzblatt.

(Foto: Uwe Tellkamp/Suhrkamp Verlag)

Zehn Jahre lang gab es Geraune und Gerüchte über eine Fortsetzung von Uwe Tellkamps gefeiertem Bestseller "Der Turm". Jetzt ist es so weit. Wie ist "Der Schlaf in den Uhren" geworden?

Von Marie Schmidt

Um der Aufregung über dieses Buch gerecht zu werden, muss man etwas ausholen. Was bisher geschah: Im Juni 2004 gewann der bis dahin kaum bekannte Uwe Tellkamp den Ingeborg-Bachmann-Preis mit der Erzählung "Der Schlaf in den Uhren". Er erzählte von einer Straßenbahnfahrt durch Dresden, die Jury fand "wir haben einen großen Autor entdeckt" und auch im Rest des Landes lösten seine schwingenden Satzperioden und seine Bildungsanspielungen die Hoffnung aus, endlich sei der Nachfolger Thomas Manns oder Marcel Prousts für die nicht ganz glücklich wiedervereinigte Bundesrepublik da. Diese Hoffnung erfüllte Tellkamp 2008 mit dem Roman "Der Turm". Darin erzählte er aus der späten DDR am Beispiel mehrerer Familien im Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch. Seine Figuren haben als Ärzte, Lektoren, Schriftsteller in ihrem bildungsbürgerlichen Kokon eine gewisse Autonomie gegenüber der Doktrin. Im Laufe der Handlung werden sie dann doch vom Staatsapparat gegängelt.

"Der Turm" wurde als wahrheitsgetreue Innensicht der DDR gelesen und traf das starke Bedürfnis nach einem "Wenderoman". Das Buch war ein Verkaufserfolg für den Suhrkamp-Verlag, zu dem Tellkamp gerade erst gewechselt war. Neben viel Ehrerbietung der Kritik schwoll danach aber auch der Spott an auf Tellkamps bisweilen betulich um alte Uhren und Schmiedeeisernes kreisende Prosa. Aber eins schaffte der Roman: Er beglückte ein Publikum, das gern Anspielungen und Schlüsselfiguren von Goethe über Wilhelm Hauff bis zu Peter Hacks und Brigitte Reimann in einem Text entdeckt. Und zugleich eignete er sich für eine ARD-Verfilmung mit Jan Josef Liefers. Für diese Anschlussfähigkeit kann man ihn nur bewundern.

Hatte er nicht schon in seinem Roman "Der Eisvogel" mit dem Pathos rechtsradikaler Umstürzler gezündelt?

Die Handlung des "Turms" endet kurz vor dem Mauerfall mit einem Doppelpunkt: "... aber dann auf einmal ... schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, 'Deutschland einig Vaterland', schlugen ans Brandenburger Tor:" Seitdem sprach Tellkamp häufig über eine "Fortschreibung", seit etwa 2012 kündigte er ihr Erscheinen regelmäßig an. Zehn Jahre später kommt dieses Buch nun heraus. Die Spannungskurve seiner Vorgeschichte ging davor aber aus anderen Gründen wieder hoch.

Spätestens 2018 machte Tellkamp auch politisch von sich reden. Bei einer Diskussion mit dem Dichter Durs Grünbein im Dresdner Kulturpalast zum Thema Meinungsfreiheit beklagte er, man werde hierzulande herablassend behandelt und ausgeschlossen, wenn man sich etwa zur Aufnahme syrischer Kriegsflüchtlinge anders als ein von ihm definierter linker Mainstream äußerte. Dazu brachte er die hergeholte Zahl, 95 Prozent der Flüchtlinge flöhen nicht vor Krieg, sondern um in die deutschen Sozialsysteme einzuwandern.

Uwe Tellkamp: "Der Schlaf in den Uhren": Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 904 Seiten, 32 Euro.

Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 904 Seiten, 32 Euro.

Die sich gewöhnlich in liberalem Gutfinden gefallende Literaturszene war irritiert und überlegte: Hatte Tellkamp nicht schon in seinem Roman "Der Eisvogel" von 2005 mit dem Pathos rechtsradikaler Umstürzler gezündelt? Als einer der Ersten hatte er die sogenannte "Charta 2017" unterschrieben, die argumentierte, durch Angriffe auf neurechte Verlage auf der Frankfurter Buchmesse und die Reaktion des Börsenvereins darauf, werde "die Meinungsfreiheit ausgehöhlt". Vom "Gesinnungskorridor" war die Rede. Auch die "Gemeinsame Erklärung 2018" unterzeichnete Tellkamp, wo es heißt, Deutschland werde "durch illegale Masseneinwanderung beschädigt". Einmal mehr fuhren Kulturkritiker zu Tellkamp nach Dresden, man diskutierte und beschrieb das Ganze dann als Kulturbetriebsfall einer allgemein gesellschaftlichen Abspaltung.

Was der Suhrkamp Verlag während der Diskussion mit Grünbein unter dem Hashtag "Tellkamp" getwittert hatte: "Die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der des Verlags zu verwechseln", fand aber keiner gut. Schon weil es Tellkamp in seiner Klage bestätigte. Der Verleger Jonathan Landgrebe sagte wenig dazu, aber: "Uwe Tellkamp ist und bleibt Autor des Verlags." Trotzdem hatte es deswegen eine gewisse Plausibilität, als Journalisten der Welt versuchten, einen Konflikt bei Suhrkamp über die politische "Tendenz" der Romanfortsetzung zu lancieren, weil deren Erscheinen 2020 wieder einmal verschoben wurde: In dem renommierten Verlag sei man "verzweifelt und ratlos" über das Manuskript. Autor und Verlag dementierten, das Buch sei einfach noch nicht fertig.

Tatsächlich wurde der Roman, der wie der Bachmannpreis-Gewinnertext "Der Schlaf in den Uhren" heißt, ziemlich kurzfristig und versteckt angekündigt. Obwohl es sich beim vorliegenden Buch um eine intensiv lektorierte und gekürzte Fassung handelt, lässt allein die Form des Textes die Adjektive "verzweifelt" und "ratlos" wieder einleuchtender erscheinen. Noch vor allen politischen Problemen.

Der lange epische Atem des "Turms" hat sich in kurze Anrisse von Erzählungen aufgelöst

Wie ist der neue Tellkamp also? Nun, es ist vor allem bis zuletzt nicht leicht möglich, sich darin zurechtzufinden, sich unter seiner Welt etwas vorzustellen, denn "Der Schlaf in den Uhren" spielt auf einer Vielzahl von Zeitebenen, mit Mischungsverhältnissen von Fantastischem und Historisch-Realistischem, collagiert Schlüsselfiguren realer Zeitgenossen. Der lange epische Atem des "Turms" hat sich in kurze Anrisse von Erzählungen aufgelöst, die höchstens durch Suggestionen verbunden sind. Manches taucht später wieder auf, vieles endet lose. Auch von dem behaglich gewichtigen Erzählton des Erfolgsromans sind nur noch Reste übrig, die wie Fossilien in einen Steinbruch aus essayistischen, protokollierenden und satirisch gemeinten Abbreviaturen eingeschlossen sind.

Zwei Hauptaspekte stellen sich heraus: Es handelt sich um eine Mediensatire und wirklich um eine Art Fortsetzung des "Turms". Wobei man intim mit dem Vorgänger vertraut sein muss, um das genießen zu können, weil die Figuren nicht wieder vorgestellt und kaum entwickelt werden. Der Roman spielt im Wesentlichen 1989/90 während der friedlichen Revolution und den Verhandlungen um die Wiedervereinigung, setzt also wirklich nach dem berühmten Doppelpunkt wieder an. Und es gibt eine Erzählgegenwart des Jahres 2015, markiert von der Ankunft von Flüchtenden.

Uwe Tellkamp: "Der Schlaf in den Uhren": Eine Art Satiriker: Uwe Tellkamp.

Eine Art Satiriker: Uwe Tellkamp.

(Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag)

Die markanteste Wiederbegegnung ist die mit der Figur Anne Hoffmann, an die man sich aus dem "Turm" als Krankenschwester, Mutter und betrogene Ehefrau erinnern kann. 1989 ist sie eine eher zurückhaltend beobachtende Bürgerrechtlerin. 2015 taucht sie wieder auf als Bundeskanzlerin. "Hängende Mundwinkel" und "das vollständig Nichtzündende ihrer Auftritte" ergeben bekannte Züge. Man würde sich von der Plausibilität dieser Figurenentwicklung überzeugen lassen, aber wie es vom einen zum anderen Stadium kommt, erzählt Tellkamp nicht. Im letzten Drittel fällt Anne irgendwie aus dem Buch, obwohl sie da in der Flüchtlingssache noch eine Rolle zu spielen hätte.

Es gibt außerdem eine fantastische Ebene der Handlung, die in der Darstellung der Funktionärs- und Behördenviertel im "Turm" als "Ostrom" und "Kohleninsel" schon angelegt war. Im neuen Buch wird ein Großteil der literarischen Topografie unter dem Namen "Treva" beschrieben, was wechselweise für das von Elbe und Rhein durchzogene Gesamtdeutschland und eine Stadt gleichen Namens steht. Darunter liegt ein Bergwerk, in dem sich verschiedene unterirdische Behörden befinden. Am deutlichsten zeichnet Tellkamp die Rolle der "Tausendundeinenachtabteilung", die dafür sorgt, dass Informationen ausgesucht, in Medien und Verlagen zu einmütigen Narrativen zusammengesetzt werden und von da aus in Politik umsetzbar sind. Die genannten Zeitungen und Medienhäuser stehen überdeutlich für die der deutschen Medienlandschaft. Der Spiegel zum Beispiel heißt hier Wahrheit und sein Gründer, "der alte Brandenstein", alias Augstein, hat nicht den journalistischen Leitspruch geprägt "Sagen, was ist", sondern: "Das Leben ist ein Roman. Wir schreiben ihn."

Hier hat sich Tellkamp keinen Zentimeter von seinen Einlassungen von 2018 entfernt

Als Satire ist das nicht besonders subtil. Zumal das Genre ja auf einen Effekt höherer Wahrheit zielen würde, der hier tatsächlich in einer politischen Behauptung besteht. Darin hat sich Tellkamp keinen Zentimeter von seinen Einlassungen von 2018 fortbewegt. Im Verlaufe des Buches stellt es sich so dar, dass die alten Sicherheits- und Kulturbehörden der DDR nach der Vereinigung unter die Oberfläche von "Treva" abgesunken sind, wo sie jetzt mit dem alten Personal an der "Aufgabe im Grunde", einer sicheren Diskurslenkung, arbeiten.

Beobachtet man, wie Tellkamp dieses Weltbild erklärt, beschleicht einen der Eindruck, ihm sei die Sympathie für das Bildungsbürgertum der DDR bitter geworden: "Wenn Siemens eine ostdeutsche Provinzbude übernehme, seien die Machtverhältnisse geklärt, von der Provinzbude werde nichts übrigbleiben", sagt da einer über die Folgen der Einheit. Die BRD schluckt den Osten, heißt das, aber in einem Aspekt kann er die Überhand behalten haben: "Beim ideologischen, beim neutraler gesprochen, Bildungsüberbau, verhalte sich das anders: da sei der Westen unterlegen trotz aller seiner angeblichen oder tatsächlichen Freiheiten, trotz einer kaum faßbar vielfältigen Geistes- und Presselandschaft, der Westen sei zwar frei, aber alles sei relativ, man sei offen, aber leer."

Die Vorstellung, dass die Bundesrepublik, der Westen dekadent und gelenkt sei und darin inzwischen wieder der späten DDR ähnele, ist ein bekannter Topos, wie auch die Idee eines "tiefen Staates". So was ist häufig zu hören im Pegida-Umfeld. Oder jedenfalls in Milieus, denen es leichter fällt, zu glauben, dass "der Mainstream" von finsteren Mächten gesteuert wird, als zu erkennen, dass es auch in pluralen Gesellschaften Konzentrationseffekte gibt. Was ja strenggenommen viel unmittelbarer kritikwürdig ist, als numinose, ungreifbare Mächte im Hintergrund.

Man könnte nun argumentieren, dass sich Tellkamp mit der Verschlüsselung seiner Figuren und Mehrfachcodierung seiner Motive gegen Diskussionen über solche Thesen absichert. Zumal der Romanzyklus und seine Entstehung im Roman selbst wieder vorkommt. Eine Metalepse, mit der er auch die Kritik vorwegnimmt, die er daran erwartet. Oder man könnte sagen: Indem er politische "Narrative" anprangert, mache er sich gebundene, schlüssige Erzählungen auch für seinen Roman verdächtig und unmöglich.

In einer Szene ahnt man, was für ein Buch es hätte werden können

Vielleicht ist "Der Schlaf in den Uhren" aber auch nur ein konfuses Buch: Fabian Hoffmann, im "Turm" eine Randfigur, ist hier zwar Ich-Erzähler, bleibt aber schemenhaft. Verhandlungen, etwa der Gruppe der 20, des Neuen Forums und sich neu gründender Parteien, die schließlich zur Wiedervereinigung führen sollen - eigentlich ein interessantes Thema - sind in Dialogen wiedergegeben, bei denen man nie weiß, wer spricht. Ebenso Situationen der DDR-Verlags- und Literaturszene.

Was für ein Buch so eine Fortschreibung hätte werden können, ahnt man in einer Szene, in der die gewaltlose Erstürmung der Dresdner Stasi-Zentrale jeden Augenblick umzukippen droht. Ohne wissen zu können, was sie tun, handeln sich die Protagonisten in den historischen Moment hinein. Daran hätte man viel zeigen können, aber auch diese Episode endet unvermittelt. Einen gewissen Unterhaltungswert haben Passagen über Nassrasur oder einen Segeltörn, in denen Tellkamp das Manufactumhafte seiner früheren Prosa zu karikieren scheint.

Aber letztlich gibt es keine Motivation, kein Ziel und keinen Drive, der einen zwingen würde, das Buch durchzulesen. Wenn man den Roman nicht einfach als literarisch missglückt weglegen, sondern ernst nehmen möchte, beginnt er etwas Selbstgerechtes auszustrahlen. Er scheint seinem Leser zu sagen: Wenn du nicht sowieso weißt, wie und warum das alles zusammenhängt, wer wer ist und was hier zitiert wird, hast du es nur nicht verstanden, bist du selbst zu borniert. Eine bekannte Attitüde reaktionärer Ästhetiken, die eine Totale der Weltwahrnehmung ansteuern, wie die von Ezra Pound zum Beispiel.

Wobei die Totale hier seltsam beschränkt wirkt: Tellkamps Deutschland der nahen Vergangenheit hat kaum eine Außenwelt. Europa kommt höchstens in Form von Urlaubszielen vor, Russland als blasse Erinnerung. Und Flüchtlinge tauchen wie aus dem Nichts an den Grenzen auf. Einer Leserschaft, die eine globale Pandemie und einen europäischen Krieg erlebt, muss das auffallen. Wenn sie die Geduld aufbringt für dieses Buch.

Gerade weil das zu bezweifeln ist, scheint ein Erfolg wie der des "Turms" unwahrscheinlich. Es ist dennoch richtig und aufrecht, dass Suhrkamp diesen Roman in aller Pracht veröffentlicht. Seine Probleme liegen dadurch offen zutage, ohne von Cancel-Debatten mythisiert zu werden. Weil das Ganze im Untertitel "Archipelagus 1" heißt, ist eine weitere Fortsetzung zu erwarten. Die Frage bleibt: Wie konnte aus dem Autor des prätentiösen, aber eben auch sinnlichen, vermittelnden Romans "Der Turm" der Erschaffer eines so engen Weltbildes werden?

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