Uwe Tellkamp: Die Schwebebahn:Stadt, Land, Stil

Schon in Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" spürte man den Enthusiasmus des Autors für Dresden. Sein neues Buch heißt "Die Schwebebahn" - doch nichts liegt ihm ferner als ein panoramatischer Blick auf die Stadt.

Lothar Müller

Schwärmen - das ist im Deutschen ein seltsames Wort mit einem tief gestaffelten Echoraum. Er verbindet eine physische Bewegungsform, die uns an Bienen denken lässt, und eine seelische Bewegung, die uns an fiebrig erhöhte Geistestemperaturen denken lässt. Und wenn die physische Bewegung sich zum Schwarm formiert, dann muss nur die Substantiv-Schwester Schwärmerei hinzukommen - und schon kann es sein, dass der Bienenplural davonfliegt und nur eine einzige Biene - allenfalls vom Adjektiv "kess" begleitet - als Schwarm zurückbleibt.

Uwe Tellkamp

Es gibt diese Schwebebahn über Dresden, von der Tellkamp schreibt, tatsächlich. Doch dem Autor fehlt der

Der Schriftsteller Uwe Tellkamp, 1968 in Dresden geboren, hat mit seinem Roman Der Turm (2008) ein großes Publikum gefunden. Er hat darin von einer Welt erzählt, von der viele nicht wussten, dass es sie überhaupt gab, von einer bürgerlichen Lebenswelt an den Elbhängen seiner Heimatstadt, die, obwohl unzweifelhaft eingebettet in den bröckelnden Sozialismus der späten DDR, zugleich im Abseits angesiedelt zu sein schien.

Zu dieser Welt führte eine Standseilbahn hinauf. Doch gewann sie ihre Strahlkraft nicht lediglich aus ihrer Position der abgelegenen Höhe, sondern vor allem aus dem Stil, in dem der Autor von ihr erzählte. Dieser Stil liebte die exzentrischen Wortungetüme und bizarren Namen, und er liebte das Dickicht schlingpflanzenhaft wuchernder Sätze. Er durchtränkte den Stoff - den eines bürgerlichen Familienromans - statt mit der Ironie, für die dieses Genre von Fontane bis Thomas Mann berühmt war, mit dem Geist der Schwärmerei. Nicht mit der leichthin flatternden Variante freilich, sondern mit der erhöhten Temperatur des ernsten, leidenschaftlichen Enthusiasmus, der in den älteren Regionen des Wortes Schwärmerei nistet, dort, wo die Geisterseher mit dem zweiten Gesicht wohnen.

Jetzt hat Uwe Tellkamp dem Enthusiasmus für seine Heimatstadt, der schon am Turm mitschrieb, unmittelbar auf sein Dresden treffen lassen, ohne die Zwischenschicht der Romanform. Das Buch, das daraus hervorging, heißt Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen. Es gibt diese Schwebebahn, und man kann von ihr aus die Stadt betrachten. Aber nichts liegt diesem Buch ferner als der panoramatische Blick von einem sich gemächlich bewegenden Punkt aus. Und auch der nach Stadtführer klingende Untertitel ist Maskerade.

Schon der erste Satz lässt keinen Zweifel daran, dass hier die sichtbare Stadt nur die transparente Oberfläche des mythischen Dresden ist , in dem sich alle Vorzeiten versammeln: "Das Dresden meines Temperaturgedächtnisses ist eine Winterstadt voller Fernwärmerohre und Heizungen, von deren Rippen die Farbe abgeplatzt war; oft lag ich, ein Junge von zehn oder elf Jahren, nachts wach und lauschte den Flüsterstimmen der Gespenster, die in der Braunkohle wohnten und durch die Überredungskünste von Riesaer Sicherheitszündhölzern und Flammat-Kohleanzünder (weiß, hartseifig - oder braun und zäh wie ,Plombenzieher'-Toffeebonbons ) aus ihren tertiären Schlafstätten gelockt wurden."

Hier erkundet ein Autor, der die vierzig überschritten hat, die Stätten seiner Jugend, nimmt den Leser mit auf eine Tour, die das Dresden der Gegenwart samt wiedererrichteter Frauenkirche und neu gestaltetem Albertinum mit dem erinnerten Dresden der 1980er und 1990er Jahre verbindet, mit den Markennamen und den Schauplätzen der Kindheit, dem Friseursalon Harand, dem Kosmetiksalon Nofretete, der Laufmaschinen-Reparatur, dem Zigarren-Ziegenbalk etc.

Die Nachkriegszeit dehnt sich

Eine auf die Kuriosa spezialisierte Naturgeschichte der Dinge in der DDR tut sich auf, sie verbindet sich mit der Archäologie verschollener oder verwaister Industrieanlagen und einer aus der privaten Perspektive erzählten Zeitgeschichte von den Schulhöfen der 1970er Jahre bis zur "Villa Maria" der oppositionellen Bohème der 1980er Jahre und der Revolutionierung des Alltagslebens nach 1989/90. Einmal tritt, in den Erinnerungen der Älteren im Friseursalon, der General Paulus auf, der nach dem Krieg in Dresden lebte. Er beleuchtet blitzartig, was aus vielen Passagen hervorgeht: dass in einer Stadt, die so zerstört wurde wie Dresden, die Nachkriegszeit sich dehnt.

Manches verrutscht unfreiwillig ins Komische

Aber was immer dieses Buch erzählt, es ist vor allem der Versuch des Autors, die Stadt seiner Herkunft, die Stadt, die er liebt, mit aller Kraft, die ihm zu Gebote steht (und das ist nicht wenig), in den eigenen Individualstil zu bannen. Eine der Quellen dieses Stils ist die barocke Wunderkammer, eines seiner Paradestücke die Schilderung eines Besuchs im Grünen Gewölbe: "Ich sah Todesarten, in Anspruch genommen für nekromantische Gastmähler. Blutrote Korallen entsprossen, flackernd asymmetrisch, ansteckend wie Windpocken, dem Kopf und der kühlen Ruhe Daphnes."

Zwei Gefahren drohen dem Stil dieses Autors: dass er sich an sich selbst berauscht, bis ihm die Welt, die er verwandeln will, abhanden kommt; und dass ihm die intellektuelle Schaumkrone, die er sich am Scheitelpunkt seiner in Adjektivballungen und Partizipialkonstruktionen daherrauschenden Satzwogen gern aufsetzt, auf unfreiwillig komische Weise verrutscht: "manchmal darf Ironie ihre juckende Schulter am Keilerstamm der Vorurteile scheuern".

Für die Herkulanerinnen in der Antikensammlung wie überhaupt für die Welt Winckelmanns, auf die sich die Kulturpolitik der DDR berief, hat Tellkamp nur einen spöttischen Seitenblick übrig. Doch in manchen Passagen rächt sich die allzu gründliche Austreibung des Klassizismus. Dann erstarrt der Periodenbau in seltsam ungelenken Posen und muss sich erschöpft an ein Semikolon anlehnen, bis sich die Glieder wieder lockern : "Obwohl ich die Schwarmgeister zur Besinnung mahne und im Flachflug über der Realität zu halten versuche, indem ich mich an das Kinderheim in der Chopinstraße erinnere, bricht der Schock, wenn sie, die ich Quichotte nannte, inmitten ihrer Freundinnen den Schulhof betrat und sich ringsum, als wären sie Magnetwesen mit dem abstoßenden Pol hin zu ihren Mitlebenden, sofort Platz bildete, eine Zone des Verstummens im Schülergequassel, eine Aura der Unerreichbarkeit, bricht dieser Moment, der immense und abrupte Bann, den die Frauen (sie waren keine ,Mädchen') erzeugten, mit der Kraft einer Staudammsprengung wieder auf, jenes Bersten einer bis dahin unbekannt gebliebenen Verkrustung, die nur der Schulsport oder eine der üblichen Mutproben ahnungsweise bedrängt hatte;"

Grammatisch geht das - nach zweimaliger Lektüre - auf; stilistisch nicht. Es steckt ein Element von Panik in der ostentativen Sprachlust und Sprachgewalt dieses Autors, die Angst, sich eine Metapher, eine kühne Analogie, einen Sprung vom Höchstmodernen ins Chthonische entgehen zu lassen. Diese Panik gefährdet den Stil Tellkamps. Er braucht in sich das andere Ufer der wogenden Perioden, Sätze wie diesen: "Die Elbe wirkte leicht, die Häuser schwammen davon." Die Fotografien von Werner Lieberknecht, über zwanzig Jahre hinweg entstanden, tragen dazu bei, dass Tellkamps Dresden dem Autor - und seinem Leser - nicht davonschwimmt.

UWE TELLKAMP: Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen. Mit Fotografien von Werner Lieberknecht. Insel Verlag, Berlin 2010.167 Seiten, 19,90 Euro.

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