"Utøya 22. Juli" im Kino:Dieser Film ist eine Anmaßung - und keine gute

Szene aus dem Film "Utøya 22. Juli"

Kaja (Andrea Berntzen) auf der Flucht vor dem Massenmörder Anders Behring Breivik im Film "Utøya 22. Juli".

(Foto: Festival)
  • Der Spielfilm "Utøya 22. Juli" erzählt die Geschichte des Massakers von Utøya aus Sicht der Opfer.
  • Die Handlung ist fiktiv, Regisseur Erik Poppe erhebt aber den Anspruch, die reale Opfererfahrung zu zeigen.
  • Diesen Anspruch erfüllt er nicht, stattdessen schafft er sich fiktionale Spielfiguren, damit er sie nach Belieben über die Insel des Grauens jagen kann.

Von Tobias Kniebe

Sehr bald ist klar, dass dieser Film einer Hauptfigur folgen wird, ihr nicht mehr von der Seite weicht. Sie ist eine junge Frau, die ins Grauen hineingezogen wird, in eine Erfahrung, die sich niemand ausmalen kann, in die schrecklichsten Minuten ihres Lebens. Aber noch ist es nicht so weit.

Noch steht sie vor einem feuchten Fichtenwald und schaut uns, den Zuschauern, direkt in die Augen. Es ist praktisch das Erste, was sie tut. "Das wirst du nie verstehen", sagt sie. "Aber hör mir einfach mal zu, okay?" Dann wendet sie ihr offenes, optimistisches Sommersprossengesicht ab, die Kamera heftet sich an ihre Sweatshirt-Kapuze und an ihr braunes Haar, das feucht und ein wenig strähnig ist, andere Jugendliche kommen vorbei, ihr Weg beginnt.

Der ganze Film wurde in einem Take gedreht, den Killer sieht man nur als fernen Schatten

Diese Eröffnung aber ist direkt an das Publikum im Kino gerichtet. Auch wenn der Film seine Grenzüberschreitung, die direkte Ansprache, gleich wieder auffängt und dementiert. Denn eigentlich telefoniert Kaja mit ihrer Mutter, mit Kopfhörer im Ohr, die Worte galten ihr, und der Blick in die Kamera war scheinbar Zufall. Zurück bleibt allerdings das Gefühl, dass die Macher von "Utøya 22. Juli" sich mit dieser Szene gleich ein wenig über die Betrachter ihres Werks erheben. Das macht der norwegische Regisseur Erik Poppe ganz bewusst.

Wie es tatsächlich gewesen sein mag, während des Massakers im Jahr 2011 auf der norwegischen Ferieninsel Utøya dabei zu sein, um von einem gefühllosen Massenmörder über siebzig endlose Minuten gejagt zu werden - vielleicht kann man sich das tatsächlich nicht vorstellen. Dieser Film aber? Der kann das schon. Er wird es uns jetzt auch zeigen. Und wir sollen einfach mal zuhören. Okay?

Im Februar auf der Berlinale, wo "Utøya 22. Juli" im Wettbewerb lief, sprach Erik Poppe lange von seiner intensiven Beschäftigung mit den Opfern und ihren Geschichten. Und offenbar glaubt er, das Recht der Überlebenden, gehört und in ihrem Trauma verstanden zu werden, vor allem aber das Recht, mit ihrer Geschichte nicht gleich Bewertungen zu unterliegen, sei damit auch schon ein wenig auf ihn selbst übergegangen.

Zunächst ist man sogar bereit, diesen Anspruch zu akzeptieren. Ist es nicht das Wesen des Kinos, uns in Umgebungen und Situationen zu bringen, die wir mit etwas Glück nie erleben werden? Und fragt man sich das nicht selbst nach jeder neuen Terrornachricht, jeder neuen Schulschießerei: Was hätte ich in jenen Minuten getan, als Schüler in Littleton oder Parkland, als Konzertbesucher im Bataclan in Paris, als McDonalds-Gast beim Olympia-Einkaufszentrum in München? Warnzeichen sehen oder nicht sehen, rennen, ducken, verstecken? Gibt es vielleicht sogar Strategien, die am Ende den Unterschied ausmachen zwischen Leben und Tod?

So makaber das klingen mag, aber ein solches filmisches Projekt hätte einen Sinn. Eine Art Trainingsfilm, der den Erfolg oder Misserfolg realer Verhaltensweisen an jenem 22. Juli auf Utøya rekonstruieren würde. Auf dem Boden der Toilette den Atem anhalten etwa, brachte das höhere Überlebenschancen als das Wegschwimmen im kalten Wasser? In derart analytischer Kühle wäre das vielleicht ein unmögliches Projekt - aber nutzlos wäre es nicht.

"Utøya 22. Juli" will etwas anderes. Die Hauptfigur Kaja, mit großem Einsatz von Andrea Berntzen gespielt, ist fiktional, genauso wie alle anderen Figuren. Ebenso fiktional sind Kajas Bewegungen, sobald die ersten Schüsse auf der Insel fallen. Erst versteckt sie sich mit einer Gruppe in einem Holzhaus, dann rennt sie in den Wald und kauert sich in eine Senke, dann sucht sie auf dem Zeltplatz nach ihrer Schwester, dann hält sie einem sterbenden Mädchen die Hand, und so fort. All das ist in einem einzigen Take gefilmt, und Anders Breivik, den Killer, sieht man allenfalls für Momente als fernen Schatten.

"Aus Respekt vor den Opfern und ihren Familien" seien die Figuren und gezeigten Erfahrungen nicht der Realität entnommen, lautet Poppes Begründung. Das mag sein, weitaus zwingender aber erscheinen die dramaturgischen Notwendigkeiten. Wer einer einzigen Figur in einem ungeschnittenen Take über siebzig Minuten folgen will, plant ein cineastisches Kabinettstückchen. Und die Figur kann diese Zeit unmöglich komplett auf der Toilette verbringen - das wäre kein Film. Die Protagonistin muss sich also bewegen, möglichst über die ganze Insel hinweg, sie muss eine Schwester haben, nach der sie sucht - warum würde sie sich sonst aus der Deckung wagen? -, sie muss sich im Wald verstecken wie auch später an der Felsküste, denn beide Schauplätze möchte man natürlich "mitnehmen", wie es in der Fachsprache heißt .

Was man hier sehr schnell spürt, ist ein Konstrukt. Und ein gewaltiges Autorenego. Mit dem Anspruch, sogar mehr als die reale Opfererfahrung zu zeigen, nämlich ein Best-of davon, die Greatest Hits sozusagen. Dass im Wort Hit auch der tödliche "Treffer" steckt, passt gut zur ganzen Fragwürdigkeit dieser Unternehmung. Gerade da, wo die Thrillerelemente funktionieren - wenn der Film sich atemlos mit Kaja in das Moos des Waldbodens presst, oder sie verzweifelt den Anruf der Mutter wegdrückt, weil die Schüsse gerade ganz nah sind -, wächst auch das Gefühl, dass das alles im Grunde eine Anmaßung ist.

Und leider eben keine gute, die gibt es ja auch. Die Worte des sterbenden Mädchens und Kajas Antworten darauf klingen wie Kriegsfilmklischees, irgendwo abgeschrieben. Kajas Mut, ihre Selbstlosigkeit, ihr Wunsch, Politikerin zu werden und die Welt zu retten - dramaturgische Mittel der billigen Art, beinahe lächerlich angesichts der Tatsache, dass hier eine reale Katastrophe verarbeitet wird. Und selbst die "überraschenden" Elemente - einmal muss Kaja im Versteck laut kichern, dann singt sie halblaut Cyndi Laupers "True Colors", um sich Mut zu machen - sind nichts als altbekannte Drehbuchstrategien, wenn es mit dem Zittern und Schlottern nach einer Stunde doch zu viel wird.

Einmal ganz bei den Opfern bleiben, einmal dem Täter keine Präsenz zugestehen, der ja ohnehin ein aberwitziger Narzisst ist, dessen Gier nach Aufmerksamkeit man nicht bedienen will - dieses Argument für den Film war häufig zu hören. Schon wahr, das wäre eine noble Idee, wenn "Utøya 22. Juli" sie ernst nehmen würde. Denn ganz bei den Opfern bleiben, was heißt das? Im Grunde doch dies: Auch ihre Namen zu würdigen, sie als reale Personen zu erinnern, ihren Erfahrungen treu zu bleiben, ihre Schicksale, wie sie sich ereignet haben, zu respektieren.

Erik Poppe tut das nicht. Er schafft sich fiktionale Spielfiguren, damit er sie nach Belieben über die Insel des Grauens jagen kann, als immersive Erfahrung, fast wie ein Videospiel, bei dem nur ein einziger Spieler eine Waffe hat. Und dennoch glaubt er offenbar, damit wahrhaftig zu sein, sogar "wahrhaftiger als ein Dokumentarfilm". Wir konnten alles zusammenbringen, sagt er, verglichen mit nur ein oder zwei Geschichten, die eine Dokumentation zeigen würde. Da spricht der Größenwahn eines Mannes, dessen Name außerhalb Norwegens praktisch unbekannt ist - und wahrscheinlich war ihm selbst nicht ganz klar, welche Last er sich damit auflädt.

Wer nämlich die grausame Dramaturgie des Schicksals an jenem Sommerabend in Norwegen für ungenügend erklärt, muss seine eigene Dramaturgie dagegensetzen und ernennt sich dabei selbst zum grausamen Gott. Die Macht über Leben und Tod, die Anders Breivik am Auslöser seiner Schnellfeuerwaffe gespürt haben mag - empfanden die Macher dieses Films sie auch beim Drehbuchschreiben und Inszenieren? Und hat sich das, vielleicht, sogar ein kleines bisschen gut angefühlt? Angesichts eines Finales, das man nur als krassen dramaturgischen Willkürakt bezeichnen kann - und angesichts eines Gefühls völliger Sinnlosigkeit, das der ganze Film am Ende zurücklässt -, würde man das Erik Poppe schon gern mal fragen.

Utøya 22. Juli, Norwegen 2018 - Regie: Erik Poppe. Buch: Anna Bache-Wiig, Siv Rajendram Eliassen. Kamera: Martin Otterbeck. Mit Andrea Berntzen, Aleksander Holmen. Weltkino, 98 Min.

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