USA:Willy Vlautin - Stimme der geknechteten Amerikaner

Willy Vlautin

Willy Vlautin ist so schüchtern, dass er eine Art Anti-Charisma ausstrahlt

(Foto: Decor Records)

In seinen Songs und Romanen erzählt er vom vergessenen Amerika. Von Menschen, die nicht wählen, nicht mehr träumen - ja, die nicht einmal mehr die Kraft haben für echte Wut.

Von Andrian Kreye

Es gibt in Willy Vlautins Gesamtwerk, das derzeit aus vier Romanen und einem guten Dutzend Platten seiner Bands Richmond Fontaine und The Delines besteht, immer wieder Momente absoluter Zufriedenheit. In dem Song "Contrails" von Richmond Fontaine zum Beispiel stellt er sich vor, wie seine frühere Freundin in einem Gartenstuhl liegt und dabei zusieht, wie sich Kondensstreifen in Sommerluft auflösen.

Es ist ein sehr kleines Glück, das er da beschreibt. Acht Takte dauert es. Dann kehrt die Wirklichkeit zurück in den Song, und man erfährt, dass er es eigentlich nur mit Whisky und Tabletten aushält, sich an die verlorene Liebe zu erinnern. Die vielleicht gar nicht im Gartenstuhl liegt, sondern genauso wie er in einem freudlosen Apartment sitzt und sich an einem Bier festhält. Das ist finster. Kurz vor seinem Konzert in Amsterdam sagt er dazu nur: "Ich habe eben ein finsteres Herz."

Willy Vlautin gehört in Amerika schon seit einiger Zeit zu den großen Geschichtenerzählern. Jetzt im Wahljahr ist er der Mann, von dem man etwas über das Amerika erfahren kann, das gerade nicht in den Schlagzeilen vorkommt. In seinen Songs und Romanen tauchen weder Donald Trumps Herzland-Wutbürger auf, noch Hillary Clintons Bildungs- und Finanzeliten oder Bernie Sanders' politisch aufgeklärte Jugend aus den küstennahen Ballungsräumen.

Es geht bei ihm um die knapp fünfzig Prozent der sprichwörtlichen Müden, Armen und geknechteten Massen, die es alle vier Jahre wieder nicht schaffen, zur Wahl zu gehen. Weil sie die Kraft nicht aufbringen, sich in eine der Wählerlisten einzutragen, oder weil sie keinen ständigen Wohnsitz haben, der sie dazu berechtigt, oder weil sie keine Zeit haben, sich mit den Versprechungen und Drohungen der Kandidaten auseinanderzusetzen, weil ihre kleinen, tristen Lebensläufe, die ansonsten keinen Menschen interessieren, so unfassbar anstrengend sind.

Er schreibt jene Musik, die man etwas ungenau oft "Americana" nennt

Man kann sich nicht darüber streiten, ob es sich dabei um das eigentlich wahre Amerika handelt, weil es kein eigentlich wahres Amerika gibt. Mit Sicherheit sind die archetypischen Figuren aus Willy Vlautins Welt aber ein sehr großer Teil der Wahrheit. Seine Songs tragen übersetzt Titel wie "Irgendwie arbeite ich jetzt als Anstreicher in Phoenix", "Wir fanden immer, dass die Autobahn wie ein Fluss klingt" oder, wie das neue Richmond-Fontaine-Album, "Du kannst nicht zurück nach Hause, wenn es kein zu Hause mehr gibt".

Da tauchen all die Figuren auf, die auch seine Romane wie "Motel Life", "Lean On Pete" und "Die Freien" bevölkern, die Gelegenheitsjobber, Imbiss-Kellnerinnen, Krankenschwestern, Veteranen, arbeitslosen Cowboys. Und immer wieder Trinker, die sich gegen Morgengrauen aus Kneipen schleppen, die man nur romantisch findet, wenn man am nächsten Tag in einem sauberen Bett ausschlafen kann und dann ein Frühstück bekommt.

Diese Figuren stellen so einiges infrage. Der Dichter und Musiker Gil Scott-Heron hat das zu Beginn der Amtszeit von Ronald Reagan in seinem Text "B Movie" mal vorgerechnet: "Wir sind offensichtlich fest davon überzeugt, dass 26 Prozent der eingetragenen Wähler schon ein Mandat bedeuten. Und das sind ja nicht einmal 26 Prozent aller Amerikaner."

Gil Scott-Heron ist überhaupt ein ganz guter Vergleich für Willy Vlautin, auch wenn sie sich auf den ersten Blick gewaltig unterscheiden. Scott-Heron stammt aus Chicago, arbeitete in New York und sprach seine Gedichte zu Jazz und Soulmusik. Willy Vlautin stammt aus Reno, der schäbigen Kasino-Stadt im Nordwesten Nevadas, lebte schon in Portland, Oregon, als das noch nicht die Hipster-Hochburg der Nation war, und schreibt jene Musik, die man mangels genauer Zuschreibungen "Americana" nennt, weil sie irgendwo zwischen Country, Blues und Rockmusik einen Mittelweg durch das amerikanische Kulturerbe sucht. Wobei das Etikett gerade bei Willy Vlautin in die Irre führen kann, weil Americana zu einer Sehnsuchtsmusik geworden ist, bei der man in den melancholischen Harmonien der Pedal-Steel-Gitarren und Gospelorgeln Träume von amerikanischen Landschaften und Freiheitsgefühlen finden kann.

Bei Willy Vlautin bekommt sogar das Firmament über der Prärie etwas Klaustrophobisches.

Er selbst käme sicherlich nicht auf die Idee, sich mit Gil Scott-Heron zu vergleichen. Der packte in seine Gedichte die Wut der Schwarzen auf das Jammertal, in das sie Amerika verbannt hatte. Willy Vlautin konstruiert seine Songs und Bücher um eine Melancholie und Resignation, die man sonst höchstens noch im ganz frühen Country und Folk findet.

Wo Armut eine ziemlich brutale Integrationsmaschine ist

Hautfarbe spielt in seinen Geschichten schon keine Rolle mehr. Seine Figuren sind Weiße, Schwarze, Mexikaner, die an den Verwerfungslinien zwischen dem Süd- und Nordwesten des Landes leben. Dort ist Armut eine ziemlich brutale Integrationsmaschine. Und doch stehen beide für die Kunst, Songs zu verfassen, in denen Text und Musik gleich heftig ein Lebensgefühl, an dem man als Normalbürger verzweifeln würde, auf den Punkt bringen. Das können ja einige in Amerika ganz gut, aber diese beiden eben ganz besonders, weil es selbst in den USA nicht so viele gibt, die als Literat und Musiker die gleiche Tiefe entwickeln.

Willy Vlautin selbst würde sich wie jeder vernünftige Mensch sowieso mit niemandem vergleichen. Der Mann ist außerdem so schüchtern, dass er eine Art Anti-Charisma ausstrahlt. Bei der Verabredung am Tresen vor dem Richmond-Fontaine-Konzert in Amsterdam übersieht man ihn fast zwischen den etwas älteren Flanellhemdenträgern. Vlautin steht irgendwo zwischen ihnen (dunkelgraues Westernhemd, Holzfällerstiefel, Jeans, die schon einen guten Teil der Tour hinter sich haben), winkt, zeigt einem den Weg hinter die Bühne. Die Musiker, mit denen er schon so lange spielt, tun dort das, was alle Musiker vor Konzerten tun. Sie warten im Vakuum zwischen Langeweile, Lampenfieber und An-Instrumenten-Herumfingern in einem fensterlosen Raum mit alten Polstermöbeln und einem Kühlschrank.

"Ich rechnete fest damit, dass ich mal als Penner ende"

Willy Vlautin besorgt Bier in Dosen. Beim Zischen der Aufreißlasche sagt er: "Das war schon immer mein Lieblingsgeräusch." Er selbst trinkt keines. Eben deswegen. Er erzählt dann von seinem Leben, das lange genauso verlief wie das seiner Figuren.

Die Mutter alleinerziehende Sekretärin, immer von Existenzängsten geplagt, weil sie ringsherum sah, wie schnell man scheitern kann. Sie lebten in einer Stadt, in der viele strandeten, weil man dort für 50 Dollar die Woche in einem der vielen Motels wohnen konnte. Vlautin fing schon als Teenager mit dem Schreiben an, Songs, Romane und Geschichten. Und auch wenn er sich nicht vergleichen mag, seine Helden fand er schon früh: "Ich hatte Bilder von John Steinbeck und The Jam an der Wand. Das bringt es ziemlich auf den Punkt."

Er kann wunderbar melancholisch davon erzählen, wie es ihn damals immer in diese Trinkerkneipen gezogen hat, in denen die alten Männer saßen, und ihm das so eine selbstzerstörerische Sicherheit gab. "Ich rechnete fest damit, dass ich mal als Penner ende. Ich war fast dreißig, bevor ich begriff, das ich nicht als Versager in einer Bar alt werden will."

Erst als sich Vlautin ein Haus kaufte, kam das Selbstbewusstsein

Sein erstes Buch "Motel Life" veröffentlichte er dann erst mit fast vierzig. "Ich hatte nie das Selbstbewusstsein, was mit Literatur anzufangen." Stattdessen zog er Anfang zwanzig nach Portland, arbeitete als Lastwagenfahrer und Anstreicher, gründete Richmond Fontaine. Es lief bald. Er kaufte sich sogar ein Haus. Ein sehr kleines Haus mit zwei Zimmern, aber immerhin. Mit dem Haus kam zum ersten Mal eine Spur von Selbstbewusstsein. "In Amerika kriegt man von Kind auf eingetrichtert, dass man erst dann ein richtiger Mensch ist, wenn man ein Haus besitzt." Richmond Fontaine wurde zu einer der Bands, der man die Vorsilbe Kult anhängt, was allerdings nicht unbedingt heißen muss, dass die Musiker von ihrer Arbeit auch gut leben können.

Das hat sich bis heute nicht geändert. Willy Vlautin wohnt zwar inzwischen in einem sehr viel größeren Haus auf dem Land, er hat sogar ein paar Pferde. Leben kann er allerdings von seinen Büchern. Was viel über den Zustand der Kulturproduktion erzählt, wenn ein Nischenrockstar mit der Literatur mehr Geld verdient als mit seinen Schallplatten und Konzerten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Zwei Bücher haben es sogar nach Hollywood geschafft. "Motel Life" wurde mit Stephen Dorff, Emile Hirsch und Dakota Fanning verfilmt. Es ist die Geschichte zweier Brüder in Reno, die ein blöder Verkehrsunfall in einen Mahlstrom des Unglücks katapultiert. Da ist sie wieder, die alte Existenzangst der Mutter. Willy Vlautin hatte mit dem Film nicht viel zu tun, aber er hat ihn sehr bewegt. Weil die Filmemacher an Orten gedreht hatten, die er aus seiner Kindheit kannte und die schon bald nach dem Dreh verschwanden. Noch so ein Leitmotiv, dieses Nicht-nach-Hause-Können, weil es das Zuhause nicht mehr gibt.

Wenn er Songs schreibt, erzählt Willy Vlautin so einen Romanstoff auch in unter vier Minuten. Auf dem neuen Album zum Beispiel beschreibt er in "I Got Off The Bus", wie er in seine Heimatstadt zurückfährt, sein Schulfreund ihn versetzt, seine alte Liebe längst fortgezogen ist, wie er sich in einem Kino aufwärmt, wie er am nächsten Morgen auf einer Bank von einem Polizisten aufgeweckt wird, dem ganz egal ist, dass er hier in dieser Stadt aufgewachsen ist.

Diese Sparsamkeit der Sprache und der Bilder macht dann auch die Kraft seiner Bücher aus, die darauf beruht, dass sich amerikanische Schriftsteller so beharrlich auf die Stärke ihrer Figuren und Geschichten verlassen, dass sie keine Sprachkunststücke brauchen, weil sie ein Innenleben auch in vier knappe Szenen packen können. Und sei es die Erkenntnis, dass es keine Heimat mehr gibt.

Ein wenig von dieser Selbstzerstörung und Wut findet sich immer noch in der Musik von Richmond Fontaine. In den älteren Songs, die sie dann etwas später während des Konzertes spielen. Da kippen die Westerngitarren in die Verzerrung und das Schlagzeug treibt Vlautins Geschichten mit dem Ungestüm des Punk vor sich her. Das kriegen er und seine Musiker auch mit Ende vierzig noch so glaubwürdig hin, als würden sie erst seit Kurzem den Zorn ihrer Jugend in Musik zu ventilieren.

Heute geht es ihm fast zu gut für Abgründe. Zum Schreiben fährt er deswegen nach Winnemucca, ein Bergarbeiterstädtchen in der Wüste von Nord-Nevada, mietet sich im Winner's Casino ein. "Zwei Wochen Schreiben, dann ein Besäufnis", ist seine Methode. Im Kasino findet er die Verlorenen, die es nicht einmal bis Reno geschafft haben. Und manche Kneipen haben schon um acht Uhr morgens Happy Hour, weil dann die Kumpels aus den Bergwerken der Gegend von der Schicht kommen.

Zum Schluss aber doch noch die Frage, die man in diesem aufgebrachten Jahr stellen muss: keine Politik? Wenn schon nicht in den Texten, dann wenigstens in seinem Leben?

Hoffnung gehört nicht zu Vlautins Vokabular

"O ja, doch, ich war im Herzen immer ein Demokrat, habe für Arbeiterrechte gekämpft, obwohl ich in einer so konservativen Familie und Welt aufgewachsen bin. Und als wir in Afghanistan und den Irak einmarschiert sind, habe ich mich so geschämt, dass ich nicht schlafen konnte. Aber ich hatte nie gelernt zu streiten." Also schrieb er seinen vierten Roman "Die Freien", der ein Blick in den Abgrund des Alltags einer Veteranenklinik ist. Hoffnung gibt es da keine. Aber Hoffnung gehört sowieso nicht zu seinem Vokabular.

Lange werden Richmond Fontaine nicht mehr spielen. Seit dem Frühjahr schon sind sie auf Abschiedstournee durch Amerika und Europa. Daheim in Portland hat Willy Vlautin eine neue Band gegründet, The Delines. Für die schreibt er zwar immer noch die Songs, aber er spielt nur noch Gitarre. Das Singen überlässt er Amy Boone. Mit fast fünfzig gibt er doch noch einmal seiner Schüchternheit nach: "Ich will nicht mehr in der ersten Reihe stehen." Nur dass er sich das jetzt leisten kann.

Sein Roman "Lean On Pete" wurde in diesem Sommer von Andrew Haigh verfilmt, der neulich Charlotte Rampling in "45 Years" eine Oscarnominierung verschafft hat. Steve Buscemi und Chloë Sevigny spielen mit. Es geht da um einen fünfzehnjährigen Jungen, der erst seinen Vater verliert und sich dann mit einem gestohlenen Rennpferd auf die Suche nach seiner Tante macht. Als Buch ist das ein perfektes Roadmovie, das durch genau dieses Amerika führt, das so oft aus dem Blick rückt, aber eines ist anders. Der Moment absoluter Zufriedenheit kommt erst gegen Ende. Immerhin.

Richmond Fontaine spielen am 3. 11. in Wien. Ausgewählte CDs: "Lost Son", "Winnemucca", "You Can't Go Back If There's Nothing to Go Back To" (alle El Cortez); The Delines "Colfax" (Decor) Romane: "Motel Life", "Lean On Pete", "Die Freien" (alle Berlin Verlag).

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