Süddeutsche Zeitung

New Museum in New York:Die wohl politischste Schau des Jahres

Die Ausstellung "Grief and Grievance" in New York zeigt ausschließlich schwarze Künstler. Sie ist das Vermächtnis von Okwui Enwezor.

Von Christian Zaschke

Dem Kurator Okwui Enwezor waren Begriffe wie Politkunst oder Protestkunst immer fremd. Man tritt ihm hoffentlich nicht zu nahe, wenn man sagt, dass die letzte Ausstellung, die er gestaltet hat, dennoch exakt das ist: ein höchst politisches Gesamtkunstwerk. Sie heißt "Grief and Grievance: Art and Mourning in America", gezeigt werden im New Yorker New Museum Werke von 37 schwarzen Künstlerinnen und Künstlern. Es ist eine Ausstellung, für deren Beschreibung das überstrapazierte Wort "eindrücklich" ausnahmsweise angemessen ist.

Der aus Nigeria stammende, in der Kunstwelt allseits verehrte Enwezor ist 2019 im Alter von 55 Jahren an Krebs gestorben. In Deutschland ist er vor allem als Kurator der Documenta 11 bekannt geworden und von seiner Arbeit im Münchner Haus der Kunst, dem er von 2011 bis 2018 als Direktor vorstand. Er war bereits von seiner Krankheit gezeichnet, als er sich an die Arbeit zu dieser letzten Ausstellung machte. Da er spürte, dass seine Kräfte schwanden, bat er den Künstler Glenn Ligon, ihm zu helfen. Ligon erzählte neulich im New Yorker Radiosender WNYC, dass Enwezor auch im Krankenhaus stundenlang mit ihm arbeitete und konzipierte, und dass er manchmal eine halbe Stunde zur Bestrahlung musste und danach weitermachte, als wäre nichts gewesen.

"Grief and Grievance" war Enwezor ein Herzensanliegen, die Ausstellung ist sein Vermächtnis. Geplant hatte er sie ab 2018 unter dem Eindruck, dass die USA ihren ersten schwarzen Präsidenten erlebt hatten und sich anschließend die wohl größtmögliche Gegenreaktion vollzog, als Donald Trump ins Weiße Haus einzog. Er hatte sie zudem konzipiert unter dem Eindruck von institutionalisierter Gewalt gegen Schwarze und geleitet von der Frage, ob die amerikanische Geschichte der Misshandlung und der Missachtung von Schwarzen jemals ein Ende finden würde.

Natürlich konnte Enwezor damals nichts wissen von den Protesten des Jahres 2020, in dem der Schwarze George Floyd von einem weißen Polizisten kaltblütig getötet wurde. Der Polizist kniete fast neun Minuten lang auf Floyds Hals. Natürlich konnte er nicht wissen, dass es Demonstrationen im ganzen Land geben würde, und dass die Black-Lives-Matter-Bewegung einer der Fixpunkte der öffentlichen Debatte sein würde.

Doch nun wirkt es im New Museum, als habe er vorhergesehen, dass dieses Thema zu einem der aktuell bestimmenden Diskurse in den USA werden würde. Daher sieht die Ausstellung so aus, als sei sie mit einem prophetischen Auge konzipiert worden, und es ist kaum vorstellbar, dass es in diesem Jahr eine Schau von vergleichbarer politischer Bedeutung im Land geben wird.

Die New York Times stellte in ihrer unvergleichlich bildungsbürgerlichen New-York-Times-Haftigkeit die Frage, ob die Ausstellung sich nicht zu sehr an den schwarzen Kanon anlehne. Ob sie nicht in erster Linie ein Aufgebot der Stars sei, schließlich seien Werke von Mark Bradford und Carrie Mae Weems zu sehen, von Lorna Simpson, Kara Walker oder Kerry James Marshall. Von Daniel La Rue Johnson und Theaster Gates.

Pfauenfedern stecken im Teer - eine Anspielung auf Misshandlung

Die Times räumte dann doch noch ein, dass Enwezor als Kurator exakt die richtige Mischung gefunden habe, aber die Frage an sich mutete insoweit bizarr an, als diese Künstlerinnen und Künstler in der Szene natürlich teils mehr, teils weniger bekannt sind, aber bei einem breiteren Publikum zum Teil überhaupt nicht. Genau dieses breitere Publikum wollte Enwezor aber erreichen.

Anders als viele der großzügig ins New Yorker Stadtbild getupften Monumentalmuseen verfügt das New Museum nicht über fabrikgroße Hallen oder Raumfluchten von der Länge Chiles. Es ist ein schmaler, zwischen andere Bauten gezwängter Bau, der aus dem beengten Raum das Beste machen muss. Man erfährt und erlebt die Ausstellungen im New Museum vertikal, Stockwerk für Stockwerk, und immer stellt sich die Frage, ob man von oben nach unten gehen sollte oder umgekehrt. Faustregel: von unten nach oben ist fast immer besser. So auch in diesem Fall.

Aus der Eingangshalle in den zweiten Stock. Die Türen des Aufzugs öffnen sich, und sofort wird man überfallen von einer Installation, die wirkt wie ein Schlag in den Bauch. Der Künstler Nari Ward hat einen mit Teer überzogenen Leichenwagen in einem Metallkäfig gestellt. Über dem Wagen hängt ein Himmel aus Auspuffen. Wenn man näher an das düstere, beklemmende Gebilde tritt, wird offenbar, dass Ward Dutzende Pfauenfedern in den Teer gebettet hat.

Welche Assoziation hier geweckt werden soll, ist klar: die an eine besonders perfide Form des Teerens und Federns - des Teerens und Pfauenfederns. "Peace Keeper" heißt diese Installation. Ward hatte sie 1995 erstmals gezeigt und anschließend entsorgt. Auf ausdrücklichen Wunsch Okwui Enwezors hat er sie für diese Ausstellung noch einmal neu erschaffen.

Bilder, so intensiv, dass es einem die Luft abschnürt

Ausgehend von diesem Werk folgt, Stockwerk für Stockwerk, ein Gang durch den Schmerz, durch Trauer und durch Wut. "Grief and Grievance", der Titel der Ausstellung, ist nicht ganz einfach zu übersetzen. "Grief" ist Trauer, "Grievance" kann vieles sein: Beschwerden, Kümmernisse, Gram, Sorgen. Enwezor wollte die Trauer des schwarzen Amerikas über erfahrenes Unrecht, über tief empfundenes Leid, einer Kümmernis des weißen Amerikas über den eigenen Verlust von Einfluss und Macht gegenüberstellen.

Auf dem Gang durch die Stockwerke begegnen den Besuchern zum Beispiel die Fotografien von Carrie Mae Weem. Sie stellt unter anderem Ereignisse der schwarzen Bürgerrechtsbewegung nach, auf Fotos, die aussehen, als wären sie in einem Beerdigungsinstitut aufgenommen worden. Das ist so intensiv, dass es einem die Luft abschnürt.

Da sind die Wandskulpturen von Melvin Edwards. Sie heißen "Lynch Fragments", zehn ungefähr kopfgroße Gebilde aus Metall, aus Schrauben, Ketten und Resten von Rohren. Wenn man sie betrachtet, glaubt man fast, die Ketten rasseln zu hören, in die einst die Sklaven gelegt wurden.

Ein Video von Theaster Gates: In einer verlassenen Kirche richten zwei Männer am Boden liegende Türen auf und werfen sie erneut zu Boden. Sinnlos, wie es scheint, wieder und wieder. Das ist etwas arg deutlich an Sisyphos angelehnt, aber in seiner Wut, wie eingangs gesagt, ungemein eindrücklich.

Mitten in der Installation klimpert es. Dort sitzt ein Pianist

Der einzige Kritikpunkt an der Ausstellung wäre vielleicht, dass sie ihrem Titel nicht ganz gerecht wird. Während die Trauer des schwarzen Amerikas intensiv fühlbar wird, muss man sich die Kümmernisse des weißen Amerikas mitdenken. Sie finden in den Exponaten allenfalls unausgesprochen Ausdruck. Es sei allerdings eingeräumt, dass dieser Gedanke womöglich einem allzu weißen Blick auf die Ausstellung entspringt.

Schließlich, im vierten und letzten Stockwerk und im schönsten Raum des New Museum: ein Werk namens "Antoine's Organ" von Rashid Johnson. Es handelt sich um ein fast basketballfeldgroßes Gebilde aus Gerüsten, es wirkt wie ein überdimensioniertes Regal für alles und nichts. Johnson hat in diesem Regal allerlei Kram versammelt, darunter Topfpflanzen, elektronisches Gerät aus dem vergangenen Jahrhundert, dazu Bücher unter anderem von Richard Wright, von Randall Kennedy, von W.E.B. Du Bois, von Ta-Nehisi Coates.

Beim Betrachten erklingt auf einmal Klaviermusik, und nach einer Weile versteht man, dass diese aus dem Inneren des Gebildes kommt, und zwar nicht vom Band. Inmitten dieses vielgeschichtigen Regals, das den prominentesten Platz im New Museum erhalten hat, das all die Geschichten von Schmerz und Trauer sammelt, verbindet und bündelt, sitzt ein Mensch und spielt Klavier. Was sollte das anderes sein - als ein Zeichen der Hoffnung?

Grief and Grievance: Art and Mourning in America. New Museum, Manhattan, New York. Bis zum 6. Juni. Der Katalog kostet 79,95 Dollar.

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