Den weißen Amerikanern geht es schlecht. Ihre Lebenserwartung sinkt, die Zahl der Selbstmorde steigt, spätestens 2042 wird die Mehrheit der US-Amerikaner nicht mehr "caucasian" sein, wie es in Amerika heißt. Ist der Erfolg des Republikaners Donald Trump, der unter anderem eine Mauer zu Mexiko bauen will, also nichts anderes als die Rache der wütenden weißen Unterschicht, die sich von den Eliten verraten fühlt? Weil sie das Trump-Phänomen in einem breiteren Zusammenhang sieht, gibt die Historikerin Nancy Isenberg von der Louisiana State University derzeit viele Interviews. Der typische Trump-Wähler, so ihre Beobachtung, ist alles andere als arm. In ihrem Bestseller "White Trash" (Viking, 28 Dollar) argumentiert sie, dass die arme weiße Bevölkerung seit Jahrhunderten von Politikern missbraucht wird.
SZ: Ihr Buch beschreibt die Rolle von Klasse und Status in der 400-jährigen Geschichte Amerikas. Warum reden die Amerikaner so ungern über dieses Thema?
Nancy Isenberg: Wir haben den Mythos erschaffen, dass sich die USA wie durch Zauberei mit der Revolution 1776 vom britischen Klassensystem gelöst hätten. Das ist falsch, wie ich in meinem Buch darlege. Prominente Gründerväter wie Benjamin Franklin oder Thomas Jefferson haben - ebenso wie die Briten - die Armen verachtet. Es war unwichtig für sie, sozialen Aufstieg zu fördern. Franklin verdammte die Faulheit, obwohl er selbst als Lehrling weggelaufen ist. Für die Armen gab es nur eine Möglichkeit: Sie konnten nach Westen ziehen und versuchen, dort neu anzufangen.
In den Augen der Briten waren die ersten Siedler Abschaum, man nannte sie "waste people".
Die britische Gesellschaft betrachtete die Kolonien als Müllhalde, um dort Arme abzuladen. Wer den Atlantik überquerte, galt zuvor als Last: Kinder von Bettlern, Huren, Ex-Soldaten, irische Rebellen, Straftäter und Landstreicher. Heute ist das vergessen. Wir lieben die Vorstellung von Amerika als "Neuer Welt", als göttlichem Schutzraum für alle, die wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Doch die Puritaner, die im 17. Jahrhundert nach Massachusetts kamen, waren eine Minderheit. Zahlreicher waren Jugendliche, die als Leibeigene verkauft wurden. Diese Ausbeutung der Armen ist die Grundlage für die spätere Ausbeutung der schwarzen Sklaven.
Die Historikerin Nancy Isenberg lehrt an der Louisiana State University und schreibt für die Website Salon.com. Sie ist u.a. die Autorin einer Biografie über Aaron Burr - den Mann, der Gründervater Alexander Hamilton erschoss.
(Foto: privat)Dass Armut etwas mit fehlenden Tugenden zu tun hat, hält sich als Vorstellung hartnäckig.
Die USA waren lange eine Agrarnation. Wer fruchtbaren Grund besaß, war ein produktives und gesundes Mitglied der Gesellschaft. Unten standen jene, die nichts hatten oder auf kargen Böden etwas anpflanzen mussten. Von Beobachtungen beim Ackerbau schloss man, dass sich auf Ödland nur minderwertige Tiere und Menschen fortpflanzen. Diese Unterschicht wurde als entbehrlich angesehen und ausgebeutet, und jede Generation erfand für die Armen ihre eigenen Schimpfwörter: Müllmenschen. Tonfresser. Gauner. Cracker. White trash. Landratten. Hillbillies. Rednecks. Mitte des 20. Jahrhunderts entstand die letzte Beleidigung: Wer in Wohnwagen oder mobilen Häusern lebte, war "Trailer Trash".
Die Wut der weißen Unterschicht dominiert die Debatten dieses Jahres, nicht nur in Amerika, sondern auch in Großbritannien, etwa beim Brexit. Wieso kommt Trump in diesem Milieu so gut an?
Es ist irreführend, Trump nur als "White Trash"-Kandidaten zu sehen. Als Journalisten im Vorwahlkampf von seinen Auftritten in den Südstaaten berichteten, waren im Fernsehen viele weiße Männer in T-Shirts, Jeans und mit Trucker-Hüten zu sehen. Reporter sind Teil der Elite: Sie haben das Publikum als "white trash" bezeichnet, manche sprachen von der "Rache der Unterschichten". Wählerdaten zeigen aber, dass Trump-Anhänger im Schnitt reicher sind als jene von Hillary Clinton oder Bernie Sanders. Seine Hauptbotschaft ist die Ablehnung von Freihandel, ein neuer Nativismus, also die Ablehnung von Rechten für Einwanderer, und ein Hass auf jene "politische Korrektheit", die gut ausgebildete Liberale angeblich allen aufzwingen.
Trump hat von Richard Nixon den Slogan der "schweigenden Mehrheit" übernommen . . .
. . . und er sendet die gleiche Botschaft aus: "Nur ich vertrete die hart arbeitenden Amerikaner, und der Rest zerstört unser Land." Er verspricht eine Rückkehr zur Gesellschaftsordnung der Fünfziger, als weiße Männer bestimmten, Frauen vor allem Hausfrauen waren und alle Unwürdigen - schwarze Demonstranten, Feministinnen, Einwanderer - schweigen mussten. Seine Botschaft beruht auf dem Hass auf Präsident Barack Obama, der jahrelang vom Sender Fox News, von den Republikanern und Trump angegriffen wurde. Die Rhetorik schafft einen Gegensatz zwischen rechtmäßigen Bürgern und "Pseudo-Amerikanern" - also neben Obamas Demokraten und Journalisten alle, die sich weigern, Muslime als Terroristen und Einwanderer als potenzielle Verbrecher zu bezeichnen.
Wer hat Trumps Aufstieg ermöglicht?
Ganz wichtig war Sarah Palin, die Gouverneurin aus Alaska. Die Medien haben sie für ihre Ignoranz verspottet, aber ihre Anhänger liebten sie als "eine von uns". Palin war eine normale Mutter, die plötzlich im Rampenlicht stand. Die Trump-Fans bewundern heute seine "rohe Ehrlichkeit". Er ist aggressiv, vulgär und respektiert keine Regeln. Leider macht ihn das in den Augen vieler zum typischen Amerikaner. Dass er oft eine "Make America Great Again"-Baseballkappe trägt - Amerika soll wieder großartig werden -, ist übrigens kein Zufall. Der Mann, der in einem New Yorker Penthouse wohnt, übernimmt das Symbol der Arbeiter und will damit signalisieren: "Ich bin einer von euch."
Aber das ist doch ein Trick, nichts als Maskerade.
Dieser politische Stil hat bei uns eine lange Tradition. Präsidentschaftskandidaten müssen sich volksnah geben. Sie ziehen also Jeans an, fahren U-Bahn und essen in Iowa Maiskolben. Um seinen Landsleuten die Politik der USA zu erklären, griff ein Australier 1949 auf einen treffenden Begriff zurück: Es gebe dort keine echte Demokratie, sondern eine "Demokratie der Umgangsformen", democracy of manners. Die Amerikaner akzeptierten eine riesige Kluft zwischen Reich und Arm, schrieb er, solange ihre "Spitzenpolitiker vorspielen, dass sie nicht anders sind als der Rest".