US-Literatur:Amerika im grauen Flanell

Warum man nach dem Wahlsieg des Demagogen Donald Trump die neu entdeckten Storys von Richard Yates lesen muss.

Von Christopher Schmidt

Jonathan Franzen schrieb einmal, es seien die Fünfzigerjahre gewesen, die den Sechzigern ihren Idealismus gaben, "ihren Idealismus - und ihre Wut". Er meinte damit den Idealismus, von dem die sozialen Umwälzungen getragen waren, die Amerika in den Sechzigerjahren erlösen wollten vom puritanischen Erbe und vom Druck des Konformismus. Und er meinte die aufgestaute Wut der Fünfziger, aus der sich diese Befreiungsbewegungen speisten.

Ein Mann, der beides in sich vereinte, war der amerikanische Schriftsteller Richard Yates (1926 bis 1992). Wut und Idealismus bilden in seinem Werk die Grundspannung des Erzählens. Yates war ein Vorreiter jener Umbrüche, die Amerika veränderten wie nichts zuvor, ein scharfer Beobachter der Inkubationszeit von sexueller Revolution und Studentenprotesten, Counter Culture und Beat Generation. Sein bevorzugtes Forschungsgebiet hieß Suburbia, und sein Anschauungsobjekt war der damalige Durchschnittsamerikaner, der dem gesellschaftlichen Wandel mit Unbehagen und Verständnislosigkeit begegnete. Ein Amerikaner wie George Pollock aus einer von Yates' Geschichten. Den ganzen unerlösten Widerspruch der Fünfzigerjahre trägt diese Geschichte bereits in ihrem Titel: "Der Rechnungsprüfer und der wilde Wind", heißt sie.

Die ersten Sätze dieser Geschichte gehen so: "An dem Tag, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, ging George Pollock, Rechnungsprüfer der American Bearing Company, zum ersten Mal seit zwanzig Jahren im Restaurant frühstücken. Bei dem Versuch, eine Papierserviette unversehrt aus dem festen Griff des Spenders zu ziehen, zerfetzte er die ersten drei, und als er verhindern wollte, dass ihm die Aktentasche vom Schoß rutschte, hätte er fast ein Glas Wasser umgestoßen." Stummer Zeuge dieser unfreiwilligen SlapstickSzene ist ein "grobgesichtiger Mann, dessen Lippen von einem Marmeladendonut weiß gepudert" sind, eine Art höhnischer Clown.

Solche Missgeschicke werden Pollock weiterverfolgen an diesem Tag, an dem er aus der Bahn geworfen wurde. Ein Flirt mit einer hübschen irischen Kellnerin soll ihm als eine Art Papierserviette für die Seele dienen, mit der er die Demütigungen und Niederlagen wegzuwischen versucht. Doch als er nach Büroschluss und ein paar Martinis endlich den Mut findet, sie anzusprechen, erregt Pollock sofort ihren Widerwillen, weil er dabei den Arm der jungen Frau festhält. Sie reißt sich los und stürmt auf die Straße; er folgt ihr bis zum Eingang der U-Bahn und packt sie erneut. Kein Pussy-Grab, aber ein klarer Übergriff, eine Grenzverletzung auch damals in den Fünfzigerjahren.

USA. 1962. A woman cooks in the kitchen while the husband waits for supper.

Geschichten von Frauen, die ihren Männern erst das Abendessen aufwärmen, bevor sie ihren Koffer packen und ihre Familie für immer verlassen. New York, um 1962.

(Foto: Wayne Miller/Magnum Photos)

Diese Geschichte findet sich, zusammen mit acht weitere Geschichten, in einem gerade auf Deutsch erschienenen Band, der die zu Lebzeiten des Autors unveröffentlichten Short Storys aus seinem Nachlass versammelt (Richard Yates: Eine letzte Liebschaft. Short Storys. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016. 208 Seiten, 19,99 Euro). Richard Yates zu lesen, diesen unversöhnlichen Chronisten der amerikanischen Mentalitätsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, ist immer ein Gewinn. Aber nach der Wahl von Donald Trump liest man sie noch einmal anders, diese Geschichten über ein scheinbar besseres Amerika der Vergangenheit, zu dem Trump zurückwill und unter dem Yates zu seiner Zeit litt.

Zuerst streicht Vater das Esszimmer. Danach erschießt er sich im Garten

Mit kaltem Grimm schrieb er an gegen den Geist der Fünfzigerjahre: den Konformismus und den Glauben an den sozialen Aufstieg, die politische Apathie und die Vergötzung der family values, die Selbstverständlichkeit von Rassen- und Klassenprivilegien und das Diktat des positiven Denkens, das sich leicht in ein selbstzerstörerisches Ungeheuer verwandelt und dann nur noch mit der akzeptierten Droge Alkohol besänftigt werden kann. Yates hielt Amerika den Spiegel vor und zeigte es als Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten, und er protokollierte genau, wie sich Wut und Enttäuschung, statt politischer Protest zu werden, gegen die Schwächeren wenden, und sei es auch nur als ein zu fester Griff am Arm. Frauen sind bei Yates oft Opfer der frustrierten weißen Männer, die Entlastung vom Anpassungsdruck in einer flüchtigen Affäre suchen.

Immer wieder geht es bei Richard Yates um die kleinen Fluchten in Untreue und Ehebruch. In der Titelgeschichte sagt eine junge Frau kurz vor der Hochzeit zu ihrem Verlobten, auch er würde "jede Gelegenheit für eine letzte Liebschaft ergreifen", wenn er das Geld dazu hätte. Der Titel von Sloan Wilsons 1955 erschienenem Roman "Der Mann im grauen Flanell" ist geradezu zum Synonym geworden für jenen Typus, den Yates immer wieder beschrieb: Männer mittleren Alters in Anzügen von Brooks Brothers, die morgens mit leeren Gesichtern die Pendelzüge nach Manhattan besteigen. Männer, die zeternde Ehefrauen mit den Worten "Halt einfach den Mund" zum Schweigen bringen, während dieselben Frauen ihnen noch schnell das Abendessen aufwärmen, bevor sie den Koffer nehmen und sich für immer aus dem Staub machen. Männer, die Bürojobs nachgehen, die sie hassen und doch nicht aufgeben, weil sie glauben, dass der Wohlstand noch vor ihnen liegt, verlässlich wie der Flugzeugträger der US-Navy, den Betty in einer von Yates' Geschichten vom Fenster aus sehen kann und dessen Existenz sie als Beruhigung empfindet, "als sei er da, um über sie zu wachen".

Sloan Wilsons zu seiner Zeit viel gelesener Mittelstands-Roman "Der Mann im grauen Flanell" kippt im zweiten Teil überraschend in ein klebriges Aufstiegsmärchen à la Frank Capra, als hätte der Autor Angst bekommen vor dem sozialen Sprengstoff, den er im ersten Teil des Buches angehäuft hatte. Einer, der diese Angst nicht kannte, war John Cheever, auch wenn er über dasselbe Milieu schrieb. In seinen bösen Romanen erschießt sich schon mal ein Familienvater im Garten, nachdem er das Esszimmer frisch gestrichen hat. Oder ein gestandener Geschäftsmann lässt sich wortlos von einem älteren Fahrstuhlführer mitnehmen in dessen Kabuff, wo beide liebeshungrig übereinander herfallen.

US-Literatur: Richard Yates auf der Motorhaube seines alten Mazda.

Richard Yates auf der Motorhaube seines alten Mazda.

(Foto: Gina Yates)

Cheever war ein schreibender Satyr von Suburbia und ein Brunnenvergifter des amerikanischen Idylls, einer, der sich, wie er selbst sagt, als Spion in die Mittelschicht eingeschlichen hatte. In seinem Roman "Bullet Park" benennt er den Preis, den es kostet, auf dieselbe Art individuell sein zu wollen wie alle anderen: Depression oder Amoklauf. Das eine ist nur die Kehrseite des anderen. Gleich zu Beginn beschimpft er die "Legionen von partnertauschenden, judenhetzerischen, trunksüchtigen geistigen Bankrotteuren in ihren weißen Häusern, die bis zur Dachrinne mit Hypotheken belastet sind. (...) Verflucht sei ihre Scheinheiligkeit, verflucht ihre Heuchelei, verflucht ihre Kreditkarten."

Die Ironie des Schicksals wollte es, dass John Cheever Nachmieter wurde von Richard Yates. Er übernahm dessen Cottage in Westchester, einem dieser typischen Pendelorte in der New Yorker Peripherie, über deren Milieu und Moral beide schrieben. Lesen wollte damals kaum jemand, was diese zwei Autoren über das Pandämonium der Fünfzigerjahre zu sagen hatten. In der abschließenden Geschichte des Bandes "Eine letzte Liebschaft" wird eine zerbrochene Tasse zum Menetekel für die Illusion, man könne die Uhren zurückdrehen. Die Geschichte trägt den gerade sehr aktuell klingenden Titel "Ein genesendes Selbstbewusstsein".

Nach längerer Krankheit versucht ein junger Familienvater, zu Hause wieder zu Kräften zu kommen. Die Untätigkeit und das knappe Geld machen ihm zu schaffen. Dass er auf keine andere Weise nützlich sein kann als im Haushalt, empfindet er als Schmach. Als ihm beim Spülen eine Teetasse zerbricht, macht er sich solche Vorwürfe, dass er beschließt, noch am selben Tag wieder arbeiten zu gehen. Die Geschichte nimmt eine erstaunliche Wendung, als seine heimgekehrte Frau alle Schuld auf sich nimmt und ihn tröstend in die Arme schließt. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Happy End, doch der Schein trügt, beschämt ihn doch die Großherzigkeit seiner Frau tiefer als sein eigenes Versagen. Erst jetzt, da ihm verziehen wird, ist es nicht mehr nur eine Tasse, die in Scherben liegt, sondern sein ganzes Leben. Denn er muss sich eingestehen, dass es für ihn kein Zurück gibt zu alter Größe. Ernüchternder könnte er nicht enden, der amerikanische Traum vom "Great Again".

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