Nachruf auf Ursulina Schüler-Witte:Unterwegs in die Zukunft

Nachruf auf Ursulina Schüler-Witte: Die Architektin Ursulina Schüler-Witte vor einem Abbild eines ihrer berühmten Berliner Bauwerke, dem Steglitzer Bierpinsel anlässlich der Wiedereröffnung der Berlinischen Galerie.

Die Architektin Ursulina Schüler-Witte vor einem Abbild eines ihrer berühmten Berliner Bauwerke, dem Steglitzer Bierpinsel anlässlich der Wiedereröffnung der Berlinischen Galerie.

(Foto: imago stock&people/Uwe Steinert)

Die Architektin des ICC ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Das futuristische Kongresszentrum ist das Fliewatüüt der Baugeschichte.

Von Gerhard Matzig

Es gibt ein Foto von Ursulina Schüler-Witte, das aus ihrer Wohnung in Berlin-Reinickendorf stammt. Sie sitzt vor einer gut sortierten Bücherwand und guckt den Fotografen an, wie sie oft in die Welt geguckt hat: herausfordernd. Allem zugewandt, was da kommen mag. Auf dem Tisch liegt ein weißes Blatt Papier. Bereit, um die Vorstellung von etwas Zukünftigem aufzunehmen. Dahinter ist ein Modell der legendären Do X zu sehen.

Das Flugboot hatte sich Claude Dornier in den Zwanzigerjahren ausgedacht, vor einem Jahrhundert, als die Zukunft noch ein sehnsüchtiges Versprechen war. Die Do X, aufgrund mangelnder Militärtauglichkeit und erwiesener Unwirtschaftlichkeit von den Nazis aussortiert, war eine Art Bauhaus mit Flügeln, das schwimmen kann. Ein Fliewatüüt. Etwas Utopisches.

Nachruf auf Ursulina Schüler-Witte: Ursulina Schüler-Wittes ICC, das Internationale Congress-Centrum in Berlin.

Ursulina Schüler-Wittes ICC, das Internationale Congress-Centrum in Berlin.

(Foto: Florian Monheim/imago images/Arcaid Images)

Die Vorstellung ist tröstlich, dass die schon im Mai im Alter von 89 Jahren gestorbene Architektin, deren Tod erst in diesen Tagen durch die Traueranzeige des Landesmuseums für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur bekannt wurde, einfach nur unterwegs sein könnte. Unterwegs zu neuen Horizonten. Und auch weg von der lange Jahre (und bis heute) so ermüdend ergebnislosen Diskussion um ihr Hauptwerk. Das ist das Internationale Congress Centrum, ICC, das sie zusammen mit ihrem Mann Ralf Schüler in den späten Siebzigerjahren entworfen hat.

Der Bau, der von den Berlinern - was immer ein gutes Zeichen ist - mit zahlreichen Spitznamen ausgestattet wurde (eine Auswahl: Raumschiff, Arche Noah, Panzerkreuzer Charlottenburg, Alu-Monster) gehört zu den Sehenswürdigkeiten und raumbildend identifikatorischen Architektur-Sensationen Berlins. Früher, als man sich der Hauptstadt noch auf eine heute schamhaft verbotene Weise nähern durfte, also im Auto aus dem deutschen Westen heransausend (immer zu schnell, immer in die Radarfalle an der Avus rauschend, aber man war ja auch verliebt, unter anderem in Berlin), erblickte man gleich hinter der Avus-Tribüne den 313 Meter langen, 89 Meter breiten und 40 Meter hohen Kolossal-Bau. Boah, dachte man, Berlin, echt jetzt. Was für ein Wahnsinn.

Auch der "Bierpinsel" ist ihr zu verdanken

In seinem silbergrauen Aluminium-Kleid ist das ICC ein Hauptwerk der technoiden Architektur. Das Lloyd's Building in London (eröffnet 1986) oder das Centre Pompidou in Paris (eröffnet 1977) sind nahe High-Tech-Verwandte des ICC in Berlin. Das ICC zeigte seine Zukunftslust immer mit exhibitionistischem Selbstverständnis nach außen, war und ist im Inneren aber von hervorragend durchdachter Funktionalität. Schon deshalb ist die Idee, den bald ein halbes Jahrhundert alten Bau wegen der inzwischen natürlich hohen Sanierungsbedürftigkeit abzureißen, absurd.

Nachruf auf Ursulina Schüler-Witte: Der Bierpinsel in Berlin-Steglitz.

Der Bierpinsel in Berlin-Steglitz.

(Foto: Jens Kalaene/dpa)

Nichts hat Ursulina Schüler-Witte in den letzten Jahren mehr in Rage versetzt. Nach dem Tod ihres Mannes vor elf Jahren blieb sie allein im Kampf gegen eine Berliner Bau-Politik, wie sie zukunftsverdrossener nicht sein kann. In einer Ära der schwindenden Ressourcen und des klimaintensiven Bauens muss man einen solchen Bau um- und neu nutzen. Man muss sein räumliches Potential aktivieren. Nur Berlin kann stattdessen auf die Abrissbirnen-Idee kommen. Auch im Ringen um den Fortbestand ihres Hauptwerks hat sich die Architektin als wahrhaft fortschrittlich gezeigt: Es ist ihr nie nur um die architektonische Eitelkeit des Schöpfertums und um das Urheberrecht gegangen, sondern immer auch um die Notwendigkeit, Gebautes neu zu nutzen. Das ist das architektonische Denken der Stunde. Bis zuletzt war Ursulina Schüler-Witte auf der Höhe der Zeit.

Übrigens stammen vom Planer-Paar Schüler-Witte rund 250 Projekte und Gebäude. Die Skizzen, Pläne und Modelle, die das für Berlin enorm zeichenhafte Schaffen dokumentieren - Pop-Ikonen wie der U-Bahnhof in Steglitz gehören dazu oder das Turmrestaurant dort (genannt "Bierpinsel") -, wurden 2010 der Berlinischen Galerie anvertraut. Dem Museum ist jetzt auch die Nachricht vom Tod der Architektin zu verdanken. Die Nachricht ist traurig, aber die Vorstellung von einer im Fliewatüüt mal wieder in die Zukunft aufbrechenden Architektin ist tröstlich.

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