Süddeutsche Zeitung

Ursachen des Holocaust:Judenfeinde wie wir

Sozialpolitiker werden aufschreien: Der Historiker Götz Aly hat ein provozierendes Buch geschrieben, in dem er das sozialstaatliche Gerechtigkeitsstreben für eine der Voraussetzungen des Holocaust hält. Seine These: Die Juden seien die größten Gewinner der Modernisierung im 19. Jahrhundert gewesen und hätten so Neid auf sich gezogen.

Gustav Seibt

Für jeden historisch Denkenden bleibt es die Fragen aller Fragen: Wie kam es, dass ein so zivilisiertes, fortgeschrittenes Volk wie die Deutschen etwas so Barbarisches wie die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der Juden dulden und ins Werk setzen konnte? Wer hier Antworten sucht, wird sich nicht damit begnügen können, den Holocaust in einem schwarzen Loch des Verstehens verschwinden zu lassen, als schlechterdings unerklärliche, ja außerhistorische Tatsache von namenlosem Schrecken.

Dass Erklärungen, also die Erforschung von Voraussetzungen, Umständen, Ursachen und Tatabläufen, sogar von Motivationen, nicht in den moralischen Relativismus führen müssen, vor dem man sich noch im Historikerstreit fürchtete, hat die seither in Gang gekommene Forschung längst bewiesen.

Erklären und verstehen heißt nicht entschuldigen, gar verzeihen, im Gegenteil, es kann zur realistischen Wahrnehmung von fortwirkenden Schuldmöglichkeiten in unserer gegenwärtigen Welt anleiten. Je ungemütlicher, ja verletzender solche Erklärungen ausfallen, umso mehr spricht dafür, dass sie etwas Wahres treffen.

Götz Aly, der seit einem Vierteljahrhundert über die nationalsozialistischen Großverbrechen quellennah forscht, hat sich von Anfang an die Aufgabe gesetzt, diese als Erscheinungen ihres Jahrhunderts, also auch noch unserer Welt zu begreifen.

Es geht ihm um langfristige, fortwirkende Voraussetzungen für das unfassbar grausame Geschehen am Ende. So erkannte Aly in der Ermordung Zehntausender Behinderter und Geisteskranker bei der sogenannten Euthanasie den Auswuchs eines Strebens nach Volksgesundheit und sozialer Hygiene, das bis heute in modernen Gesellschaften akzeptiert wird.

Die langwierige Beschlussfassung zur "Endlösung" aber radikalisierte bevölkerungspolitische Maßnahmen, an die man sich in Europa schrittweise seit dem Ersten Weltkrieg gewöhnt hatte, im angeblich vernünftigen Streben nach homogenen Staatsnationen.

Die Entrechtung und Ausplünderung der Juden seit 1933 erst in Deutschland, dann im deutsch besetzten Europa wäre ohne die eingespielten sozialstaatlichen Umverteilungsmechanismen und die Kriegswirtschaft mit ihren egalitären Mentalitäten nicht so reibungslos über die Bühne gegangen - so die provozierende These von Alys Buch über "Hitlers Volksstaat" von 2005.

Gesundheitspolitik, Bevölkerungspolitik, Sozialpolitik aber gibt es natürlich auch nach dem Untergang des Dritten Reiches, darin besteht das Verstörende dieser Diagnosen. Dass es dabei nie darum ging, die Deutschen zu entlasten - modern sind schließlich alle europäischen Gesellschaften geworden -, zeigt nun Alys neues Buch, sein provozierendstes.

Traditionen, auf die wir uns gern berufen

Es untersucht die langfristigen mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen des exterminatorischen Antisemitismus in der deutschen Geschichte seit 1800. Fündig wird Aly dabei nicht in erster Linie bei Obrigkeitsstaat und Untertanengeist, auch nicht allein bei völkischen und rassistischen Denkern, sondern bei Traditionen, auf die wir uns immer noch gern berufen: bei der schwarz-rot-goldenen, nationalen Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts, bei einem sozialstaatlichen Gerechtigkeitsstreben, das nichts so hoch schätzt wie "gleiche Lebensverhältnisse", sogar in bestimmten gleichmacherischen Zügen der sozialistischen Solidaritätskultur.

Bevor man sich jetzt aufregt, sollte man die Quellen zur Kenntnis nehmen: 1893 meinte beispielsweise der SPD-Denker Franz Mehring im Vorwärts, die ökonomisch depravierten Kleinbürger würden "in der antisemitischen Schule einen lehrreichen Vorkurs zur Sozialdemokratie" durchlaufen, bald würden "Antisemitismus und Sozialismus" gemeinsam gegen den bürgerlichen Liberalismus Front machen. Das ist nur einer von Hunderten Belegen, die Aly aus allen politischen Traditionen der Deutschen aufführen kann.

Da gab es eben nicht nur die religiös-altständischen Vorurteile preußischer Junker, die sich, etwa bei Achim von Arnim und Clemens Brentano, in deutsch-christlicher Romantik erneuerten; nicht nur die germanentümelnde Fremdenfeindlichkeit jungdeutscher Demokraten wie Arndt und Jahn mit ihrer massiven Nachwirkung in allen Generationen deutscher Studenten bis 1945; sondern vor allem eine in allen Schichten breit fundierte, erstaunlich oft auch offen artikulierte Kultur des Neides auf überproportional erfolgreiche jüdische Aufsteiger, die Gewinner der gesellschaftlichen Modernisierung waren.

So befand der Soziologe Werner Sombart 1912, die Juden seien im Durchschnitt "so sehr viel gescheiter und betriebsamer als wir", dass man sie von Hochschullehrerstellen ausschließen müsse, weil andernfalls "sämtliche Dozenturen und Professuren mit Juden besetzt würden" (getauft oder ungetauft galt ihm dabei gleich).

Sombart kaschierte wenigstens nicht, dass es um einen Aufstand gegen die Tüchtigsten ging. Alys Material ist erdrückend. Die deutschen Juden nutzten seit ihrer Emanzipation in der napoleonischen Zeit ihre Chancen mit überdurchschnittlichem Erfolg, vor allem durch eine Hochschätzung von Bildung und Intellektualität, die es verschmähte, Jugendliche mit dem Satz "Lesen verdirbt die Augen" zu entmutigen. So konnten sie sich schon bald eine unübersehbare, auch statistisch feststellbare Überlegenheit in vielen hochqualifizierten Berufsgruppen, aber auch beim Steuerzahlen erarbeiten.

Was war schlecht daran? Natürlich gar nichts. Allerdings waren die drei großen Modernisierungsschübe, von denen die deutschen Juden in besonderer Weise profitierten, so schmerzhaft, dass dumpfes Ressentiment und hasserfüllter Neid der Abgehängten und Überforderten in der Mehrheitsgesellschaft ihren Aufstieg begleitete.

Es ist wichtig, dass Aly entgegen einer verharmlosenden Lehrmeinung das materielle Desaster, das Napoleons Regime für die deutsche Gesellschaft bedeutete, drastisch schildert. Die darauf folgende Stagnation wurde durch eine beispiellos beschleunigte Industrialisierung in der wilhelminischen Zeit abgelöst. Dass die erste Demokratie durch Weltkriegslasten und einen ökonomisch unsinnigen, dazu demütigenden Frieden belastet wurde, zeigt Aly mit einer leidenschaftlichen Handgreiflichkeit, die heutiger kritischer Historie meistens abgeht.

Sein Hintergrundthema aber ist das verkorkste Verhältnis der meisten Deutschen zur individuellen Freiheit, ein allgegenwärtiger, weltanschaulich nur unterschiedlich angestrichener Hang zum Kollektivismus, das Streben nach der Geborgenheit in der Gruppe.

Es war die Antwort auf eine Kette historischer Überanstrengungen. Gespenstisch ist Alys Analyse von Friedrich Naumanns volksimperialistischem Versuch, Nationalismus und Sozialismus zu verbinden - die FDP sollte sich überlegen, ob sie ihre Parteistiftung wirklich weiter nach diesem Mann nennen will.

Überhaupt erweist sich der Nationalismus als der hässliche, heute allzu leicht verleugnete Bruder sozialistischen Volksgemeinschaftsstrebens (vor 1933 übernahm die KPD große Teile des revisionistischen, gegen Versailles gerichteten Programms der Nazis). Diese Befunde überzeugen auch, weil Aly in anderen Fällen, etwa bei dem zu Unrecht pauschal zum Antisemiten gestempelten Gustav Freytag, die historische Gerechtigkeit wiederherstellt.

Pädagogischer Impuls

"Wer nicht von der langen und verhängnisvollen Tradition eines am Ende regelrecht eingefleischten und bis heute wirksamen deutschen Antiliberalismus sprechen mag, sollte vom volkskollektivistischen Exzess des Nationalsozialismus besser schweigen" - schärfer kann man marxistischen Auslagerungen der Schuld zum Klassenfeind nicht entgegentreten.

Der pädagogische Impuls hinter dieser aufwühlenden Sammlung von Fakten und Zitaten ist Alys Weigerung zu glauben, "die Antisemiten von gestern seien gänzlich andere Menschen gewesen als wir Heutigen". Dabei schont Aly sich selber nicht, denn er belegt seine Thesen nicht zuletzt mit Beispielen aus seiner eigenen, offenbar gut dokumentierten Familiengeschichte. Die Menschen, die den Judenmord vorbereiteten und möglich machten, stehen uns in vieler Hinsicht so nah, dass der Historiker am Ende statuiert: "Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen."

GÖTZ ALY: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 352 Seiten, 22,95 Euro.

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SZ vom 12.08.2011/pak
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