Urbanistik:Wie man Gemeinplätze baut

Ein Mann steht auf einer Leiter vor einer Informationswand zum Wohnungsbau und fotografiert eine Bau

Baustelle in Berlin. Die Bundesregierung will für Entspannung auf dem Wohnungsmarkt sorgen.

(Foto: imago)

Der Soziologe Richard Sennett sucht eine Ethik der Stadt, des Planens und Wohnens. Am Ende seines Plädoyers für die "offene Stadt" lautet die schlichte Botschaft: Seid offen für Neues!

Von Gerhard Matzig

Spätestens dann, wenn man im Kapitel "Schluss: Einer unter vielen" angekommen ist, hat man das Gefühl, sich in diesem Buch sinnlos verlaufen zu haben wie in einer irgendwie anziehenden, aber befremdlich unfassbaren, seltsam delirierenden Stadt. Man hat erst frohgemut, bald irritiert, dann ermattet die vierhundert Seiten durchwandert, um ein Ziel zu erreichen, das sich als Nichtigkeit erweist. Als Binse.

Die Stadt der Zukunft ist also eine Stadt der Offenheit, der Komplexität und der "Vielfalt der Bedeutungen" (Venturi)? Wer hätte das gedacht. Und "eine Ethik des Bauens und Bewohnens" - das ist der Untertitel von Richard Sennetts neuem Buch - ist demnach die "Ethik einer offenen Stadt"? Und dazu muss man Hannah Arendt, Aristoteles und Äsop aufbieten, Bacon, Balzac und Baudelaire, um schließlich auch noch Simmel, Speer und Stalin ins Spiel zu bringen? Ganz abgesehen von Kant, der in Berlin eine Straße sein mag, aber im Grunde jemand ist, bei dem man erfahren könnte, was eine Ethik jenseits der Binse zur Ethik macht.

Was man da erlebt, ist wie im Schlafzimmer oder auf dem Schlachtfeld selten harmonisch

Sennett, ein in der ganzen Welt beheimateter, hochgebildeter Stadtsoziologe und Kulturanthropologe, hat sein beträchtliches Wissen über Urbanismus und Planungstheorie verdichtet, um eine Ethik des Bauens und Bewohnens zu skizzieren, die sich am Ende als Maus erweist. Sennetts enormes Wissen und seine analytische Klugheit: Das ist der Berg. Was er aber gebiert, ist exakt das, was schon auf dem Umschlag des Buches steht: "Richard Sennett zeigt, warum wir eine Urbanistik brauchen, die eine enge Zusammenarbeit von Planern und Bewohnern einschließt - und dass eine Stadt voller Widersprüche urbanes Erleben nicht einengt, sondern bereichert."

Das muss man nicht hinschreiben, weil das niemand in Zweifel zieht. Man fragt sich, wo Sennett die vergangenen Jahrzehnte war, wenn ihm das neu ist.

Es ist wirklich selten, dass man einem Buch, das so viel weiß, am Ende attestieren muss: Es kommt über die Buchumschlag-Banalität keinen Zentimeter hinaus. Die vielen herumvagabundierenden Zitate aus Philosophie, Soziologie, Literatur, Geschichte und Kunst verbinden sich nie zu so etwas wie einer These, die etwas anderes wäre als eine sperrangelweit offene Tür, die der Autor mit Verve einrennt.

Richard Sennett war immer ein ungemein anregender Theoretiker im urbanen Denkraum. Praktiker ist und war er kaum, was ihn nicht hindert, im Buch immer wieder mit seiner Planer-Biografie der Nachkriegsmoderne aufzuwarten. Es war Sennett als Autor jedoch gegeben, abseits der eifersüchtig ummauerten Fachgrenzen erfolgreich zu wildern und mitreißend zu erzählen. So sind staunenswerte, ja denkwürdige Bücher entstanden. Das jetzt vorliegende aber über die Stadt als eine Ethik des Raumes ist widersprüchlich, assoziativ, unkonzentriert und einfach dahergeplaudert. Man fragt sich: Was soll das?

"Was man in einer Stadt erlebt", so Sennett, "ist wie im Schlafzimmer oder auf dem Schlachtfeld nur selten stimmig und harmonisch, sondern weitaus häufiger voller Widersprüche und schartiger Kanten." Was soll das? Oder: "Diese Ansicht wird von jedem Ehepaar widerlegt, das sich scheiden lässt." Wobei es bei dieser Ansicht um eine Vermutung von Ferdinand Tönnies geht, wonach Empathie auch einen räumlichen Aspekt beinhaltet. Doch die persönliche Scheidungsstatistik weiß es besser. Was soll das?

Die Stadt, das Schlachtfeld, das Bett, die Ehe: Sennett verläuft sich in seinem verwilderten Bilderreigen. Sein assoziatives Denken war früher meist zielführend - jetzt ist es dadaistischer Natur. Am besten ist er, wenn er schlicht die Geschichte des Städtebaus erzählt. Doch ist das alles längst bekannt. Es wird allerdings auch nicht falsch, wenn man abermals gekonnt erzählt, wie Haussmann Paris, Cerdà Barcelona und Olmsted New York interpretiert haben.

Das Grundproblem des Buches (das sich übrigens als Abschluss einer Trilogie versteht, die sich zuvor den Themen "Handwerk" und "Zusammenarbeit" widmete) besteht darin, dass Sennett die geplante und die gelebte Stadt, ville und cité, erst als Widerspruch konstruiert, um dann eine versöhnliche Lösung zu präsentieren, die darauf hinausläuft: Habt euch lieb und redet miteinander. Seid offen für Neues, anderes, Fremdes, Komplexes. Dann funktioniert das schon - die Sache mit der Stadt in Zeiten der Verstädterung.

Es wäre wirklich schön, wenn es so simpel wäre. Dann könnte man sich auch die Eitelkeiten eines Buches sparen, das immer wieder ein sehr großes Ich bemüht ("wie ich schon in jungen Jahren bei einem Planungsjob feststellte ..."), um zu dem sehr kleinen, nur mächtig aufgeblasenen Ergebnis zu gelangen: Die Stadt ist alles, was der Fall ist. Das dachte man sich ja auch schon mal. So ganz leise.

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