Süddeutsche Zeitung

Uraufführung:Herr Plastik ist sehr borniert

Goethes Zauberlehrling, Polyesterhemden und Vogelfedern als Zutaten für ein ökologisches Bühnenstück: "Der siebte Kontinent", ein Projekt von Jan-Christoph Gockel am Kölner Theater im Bauturm.

Von Martin Krumbholz

Der Albatros ist einer der schönsten Meeresvögel. Seine "Riesenschwingen", die Charles Baudelaire in einem berühmten Gedicht besungen hat, erreichen eine Spannweite von bis zu drei Metern. Die Nahrung dieses mythischen Vogels besteht hauptsächlich aus Tintenfischen. Nicht selten aber auch aus - Mikroplastik.

In Jan-Christoph Gockels Stückentwicklung "Der siebte Kontinent" am kleinen Kölner Theater im Bauturm wird der Albatros zum Sinnbild der Bedrohung und Zerstörung des Lebendigen durch Kunststoffmüll. Den "siebten Kontinent" nennt man die Strudel aus Plastik, deren größter im Pazifik liegt und inzwischen die Fläche Indiens übersteigt. Plastik vergeht nicht, es zerfällt nur in immer kleinere Teile. An den Stränden von Hawaii kann man vierzig Jahre alte Joghurtbecher finden, die noch benutzbar wären. Manchmal erkennt man die ursprüngliche Gestalt, meistens nicht. Fische, Wale oder eben Vögel wie der Albatros können den Müll jedenfalls nicht von ihrer Nahrung unterscheiden. Anhand des Inhalts ihrer Mägen lässt sich also rekonstruieren, was den Homo sapiens umtrieb, seit er im Anthropozän den Kunststoff erfand, der dann im 20. Jahrhundert viele zuvor organischen Produkte ersetzte.

Plastik ist aus der Welt nicht mehr wegzudenken. Das Menschenkind bekommt es als Armband ums Gelenk gespannt, bald spielt es mit Puppen und Legosteinen, irgendwann benutzt es ein Kondom. Es trägt Hemden aus Polyester und hört Musik von Schallplatten aus Vinyl. Der Regisseur Jean-Christoph Gockel, der das Stück mit drei Schauspielern entwickelte (als Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz), macht aus "Plastik" eine menschliche Figur. So lässt sich das Sujet als Beziehungsdrama aufführen. Herr Plastik ist ziemlich borniert und herrschsüchtig obendrein. Wenn die junge Frau, mit der er liiert ist, in Mainz einen Laden namens "Unverpackt" aufsucht, weist er rechthaberisch die Lücken im System nach. Benutzt du eine Zahnbürste aus Holz (sehr löblich!), sitzt es - das Plastik - womöglich in den Borsten. Alles vergeblich, wie es erscheint.

Doch der lustige Teil ist der schwächere des Abends. Selbstverständlich, man lacht gerne, aber letztlich ist das Thema bitterernst. Das Team ist eigens nach Hawaii gereist - Dienstreise, nicht etwa Urlaub auf Staatskosten, wie beiläufig vermerkt wird. Der zweite Teil dokumentiert die Expedition - die "Reise zur größten Mülldeponie der Erde", so der Untertitel - im Film. Man ist dabei, wenn sich zwei der Spieler an einem sogenannten Beach Clean-up beteiligen. Dieser Strand heißt "Kamilo Beach" und ist für seinen Müll auf der ganzen Welt berüchtigt. Alles muss weg, das Größte - Fischernetze zum Beispiel - zuerst. Eigeninitiative ist gefragt. Man erfährt aber auch, dass der Müll lediglich verbuddelt wird. Es existieren offenbar keine Verbrennungsanlagen.

Alles vergeblich? Man soll sich den Humor nicht verderben lassen, aber der Köln/Mainzer Abend hat doch einen erkennbar melancholischen Zug. Einer der Spieler, Michael Pietsch, hat aus dem Schädel eines Albatros-Kükens, aus Federn und Mageninhalten eine Fetzenpuppe gebaut, die an Marionettenfäden über die kleine Kölner Bühne schwebt. Es ist ein bewegendes Bild. Zitate aus Goethes Ballade vom "Zauberlehrling" und das Albatros-Gedicht bilden die literarischen Referenzen, die zu einem Gockel-Abend gehören.

Aber mit bloßer Rührung ist es natürlich nicht getan. Am Schluss streiten Lilith Häßle und Sébastien Jacobi darüber, ob tatsächlich vor allem der Einzelne mit seinem Verantwortungsbewusstsein gefragt sei, oder ob etwa alles erst einmal noch viel desaströser werden müsste, damit die Politik endlich handele. Letzteres, so denkt der Pessimist, werde wohl erst der Fall sein, wenn die Rendite der Konzerne einbreche. Sie sollen mit Kunststoffprodukten weltweit fast sechzig Milliarden Euro umsetzen.

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Quelle:
SZ vom 24.04.2017
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