Süddeutsche Zeitung

Uraufführung am Münchner Cuvilliéstheater:Wir werden scheitern

Lesezeit: 3 min

Ein globales Drama, kunstvoll komponiert: Roland Schimmelpfennigs "Der Riss durch die Welt".

Von Christine Dössel

Das neue Stück von Roland Schimmelpfennig, uraufgeführt im Münchner Cuvilliéstheater, ist vordergründig schnell erzählt. Viel an Handlung passiert da nicht. Ein stinkreiches Ehepaar empfängt in seiner Traumvilla auf dem Berg die Künstlerin Sophia, um eventuell deren neues Projekt zu finanzieren. Sophia, vom Autor als Einwandererkind in zweiter Generation und als Shootingstar der Kunstszene beschrieben, bringt ihren "Assistenten" Jared mit, einen aufbrausenden Mittzwanziger aus dem "Ghetto", der die soziale Kluft noch augenfälliger macht.

Man trinkt Rotwein und betreibt Smalltalk, hat sich im Grunde aber nichts zu sagen. Die Stimmung ist leicht erotisiert - und gereizt. Irgendwann schmeißt der Unternehmer Tom sein Portemonnaie ins Kaminfeuer. Verbrennt es mit allen Karten darin. "Wow", finden die jungen Leute. Eine Demonstration der Stärke? "Im Gegenteil", sagt Tom, "eine Demonstration der Schwäche. Vielleicht können wir ja jetzt endlich anfangen, uns zu unterhalten."

Eine große Geste. Aber letztlich eben nur eine Geste. Von jemandem, der sie sich leisten kann. Dass in Schimmelpfennigs "Der Riss durch die Welt" die Figuren tatsächlich ins Gespräch oder gar auf eine gemeinsame Ebene kommen, ist nicht möglich. Und wird auch nicht erwartet bei einem Stück, das im Untertitel "170 Fragmente einer gescheiterten Unterhaltung" heißt. Das Scheitern ist hier Programm, die Nichtverständigung Thema, das Funkloch auf dem Berg: ein grundlegendes. Der titelgebende Riss ist auch einer durch die Gesellschaft, eine Trennlinie zwischen reich und arm, oben und unten, zwischen inkompatiblen Lebenswelten. Das Ganze ist aber kein Sozialdrama. Das Stück, geschrieben als Auftragswerk für das Münchner Residenztheater unter der neuen Intendanz von Andreas Beck (Dramaturgie: Laura Olivi), nimmt seinen Titel beim Wort und zielt tatsächlich auf das große globale Drama: die Ausbeutung des Planeten, die Zerstörung der Natur, die heraufziehende Katastrophe. Es ist ein apokalyptisches Stück, in dem Schimmelpfennig buchstäblich mit dem Erdball spielt und dabei ein schleichendes Unbehagen erzeugt. Wie feinsprachlich kunstvoll und klug komponiert er das tut, ist das Aufregende daran. So geistern wie ein Menetekel die biblischen Plagen durch den Text, manifestieren sich in plötzlichen Angstvisionen oder Albträumen der Figuren. Tom etwa bildet sich ein, von Fliegen aufgefressen zu werden, wie ein Stück Fleisch, das verwest. Seine Frau Sue erstickt fast an einem imaginierten Frosch im Mund, Jared kämpft wie wild mit einer Wespe. Das aufziehende Unwetter, der Hagelsturm, ein sterbendes Reh nachts in der Küche - die Zeichen, ob eingebildet oder echt, stehen auf Weltuntergang. Auch in der Kunst: Die Installation, die Sophie plant, ist ein Fluss aus Kadavern, Müll und sehr viel Blut.

Beschworen werden diese Bilder allein durch die Sprache, mit einer ausgefuchst minimalistischen Erzähltechnik, die keiner Chronologie und Echtzeit-Dramaturgie folgt. Die Zeitebenen verschieben sich ständig, mal wird vorgespult, mal zurückgesprungen, manches wiederholt sich auch. Mal haben die Figuren Dialoge, dann wieder sind sie ihre eigenen Erzähler, jeder trägt kleine Puzzlestücke zum multiperspektivischen Gesamtbild bei. Schimmelpfennig, der viel schreibende, viel gespielte Dramatiker, spricht von "Mehrfachbelichtungen". Die gelingen ihm hier, nachdem ihm zuletzt schon mal Stücke zu prätentiös gerieten, mit albtraumwandlerischer Stimmigkeit. Unter dem "Riss" klafft ein dunkler Umweltschmerz. Ein ratloses Schweigen, wie es auch zwischen den Figuren immer wieder eintritt, "wie ein Eingeständnis des Scheiterns".

Der Regisseur Tilmann Köhler, der mit der Uraufführung sein Debüt in München gibt, hat dafür genau das richtige Händchen und auch das richtige Ohr. Sehr fein und konzentriert ist seine Inszenierung, sehr genau dem Text abgelauscht, kongenial dazu die Musik in ihrer nächtlich-klirrenden Melancholie und Windspielgläsernheit (Matthias Krieg). Ganz präzise auch die Choreografie: Wer wann wo sitzt oder steht und sich bewegt, scheint einem der Textpartitur subtil angepassten Algorithmus zu folgen. Genauso wie der Bewegungsablauf des monolithischen schwarzen Quaders auf der sonst fast leeren Bühne von Karoly Risz. Das Gebilde aus phenolbeschichteten Platten wirkt erst wie ein modernes Kunstwerk. Später, wenn es auf einer Drehscheibe zu kreisen beginnt, wird es mehr und mehr zur Trennwand, zur Mauer, zum unheilvollen Wall, teils angeschoben von den Akteuren.

Das Ensemble ist großartig. Allen voran Oliver Stokowski als Tom, reich geworden im Satellitengeschäft, ein lässiger Snob, der mit Sneakern, Designerbrille und losem Hemd jovial auf Understatement und Kumpel macht, aber sehr genau weiß, wer er ist: nämlich der, der anschafft. Zunehmend kehrt er das "reiche Arschloch" heraus. Er ist es aber auch, der die Erkenntnis hat: "Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsentwurf!" Carolin Conrad ist die unsicher lächelnde Nervöse an seiner Seite, von der Assistentin zur reichen Gattin aufgestiegen. Heimlich schwanger verfolgt sie ihren eigenen "Befruchtungsplan". So bezeichnet es jedenfalls Sophia, die aufstrebende Künstlerin mit dem blonden Schopf und den schrillen Tiger-Leggings. Lisa Stiegler lässt mit frecher Ghetto-Schnauze und herausforderndem Blick keinen Zweifel an ihrer Durchtriebenheit. So eine "geile Hütte" wie Tom hätte sie schon auch gerne. Ihren Lover Jared behandelt sie mit Herablassung. Kein Wunder, dass der Kerl regelmäßig Gläser an die Wand schmeißt. Benito Bause spielt ihn mit einer Mischung aus hellem Staunen und schwarzer Wut.

Den Schutt darf am Ende das Dienstmädchen Maria zusammenkehren. Maria gehört zu jenen "Sklaven des 21. Jahrhunderts", über die Sophia und Jared die ganze Zeit nur reden. Cathrin Störmer trägt sogar ein weißes Krägelchen. Als bissige Kommentatorin und Apokalyptikerin ist sie buchstäblich ein Feger. Es bleibt am Ende die schwarze Wand. Mit Dellen wie Einschusslöchern.

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Quelle:
SZ vom 11.11.2019
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