Unterbrochene Lektüren:Der kluge Daumen

Die Loblieder auf das Lesen häufen sich in der Corona-Krise. Aber was für eine Tätigkeit ist das eigentlich? Ulrich Johannes Schneider sieht in seinem Essay "Der Finger im Buch" in der Kunstgeschichte nach.

Von Lothar Müller

Das Licht erhellt das Gesicht des jungen Mannes und fällt auf die rechte Seite des aufgeschlagenen Buches, in dem er liest. Die Buchstaben, auf die er hinabblickt, sind nicht zu erkennen. Das Buch ruht nicht auf einer Buchstütze, sondern schwebt oberhalb des Tisches, auf dem die Kerze steht, es wird von seinen Händen gehalten. Bis auf den Daumen liegt die linke Hand im Schatten, die rechte, die fast an die Kerze heranreicht, scheint auf der Tischkante zu ruhen. In dem Dunkel, aus dem das Licht sie heraushebt, bilden Leser und Buch eine Einheit.

Der aus Utrecht stammende Maler Matthias Stom, der in Italien arbeitete, hat den jungen Mann im roten Umhang mit der markanten Kopfbedeckung um 1630 gemalt. Ulrich Johannes Schneider, 1956 im hessischen Gelnhausen geboren, Direktor der Universitätsbibliothek in Leipzig, hat ihn auf einer Reise nach Stockholm im dortigen Nationalmuseum oder bei einer Internetrecherche gesehen und zur Portalfigur seines Essays "Der Finger im Buch" gemacht. Der ist als Gang durch eine Bildergalerie aufgebaut, der Bibliothekar übernimmt die Rolle des Cicerone.

Er erinnert aber auch ein wenig an die Detektive, die von geringfügigen Details die entscheidenden Aufschlüsse erhoffen. Abhandlungen über Bücher in Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gibt es zuhauf, allein die Bibeln bilden eine kleine Bibliothek, aber dieser Bibliothekar spürt nicht den Büchern nach, sondern einer Geste des Lesens. Ihm fällt sogleich das Oktavformat des Buches auf, und das Verschlussbändchen, das über die linke Hand des jungen Mannes im Kerzenlicht fällt, aber den Schluss, es müsse sich um ein Gebetsbuch handeln, mag er nicht ziehen. Um die Lesestoffe geht es ihm erst in zweiter Linie, er studiert Haltungen, Blicke, Situationen der Lektüre, und stößt hier auf jene Tradition der "Hingabe", der "absorption" in der Darstellung Lesender, die der amerikanische Kunsthistoriker Michael Fried beschrieben hat. Warum aber interessieren ihn die Finger der Lesenden so sehr, dass er ihnen eine Bildrecherche quer durch europäische und amerikanische Museen gewidmet hat?

Leipzig ist, immer noch, eine Stadt der Buchmessen, und wer Direktor einer Universitätsbibliothek ist, hat es nicht nur mit historischen Buchbeständen zu tun, sondern mit den aktuellen Diskussionen über analoge und digitale Buchformate. Und so kann es Ulrich Johannes Schneider nicht entgangen sein, dass der junge Mann aus dem fernen Jahrhundert, der so hingebungsvoll in sein Buch blickt, in jüngster Zeit zu einer aktuellen Sehnsuchtsfigur geworden ist. Ist er nicht die ideale Verkörperung jenes "deep reading", des "immersiven Lesens", das umso strahlender leuchtet, je düsterer die Klagen über kurze Aufmerksamkeitsspannen klingen, die Berichte über die rapide Ausbreitung zerstreuter, abgebrochener, an der Oberfläche der Texte verbleibender Lektüren, die kaum Spuren in der Erinnerung hinterlassen? Und lässt sich nicht der Shutdown in der Corona-Krise als Gewinn an Lesezeit verbuchen, in der das "deep reading" wieder aufblühen kann?

Der Bibliothekar hat seinen Essay vor dem Ausbruch der Pandemie geschrieben, aber er hat eine gute Witterung für die Sehnsucht nach dem Lesen als Medium der Selbstvergessenheit und Hingabe, des Fernwehs und der Verzauberung. Seine Grundintention ist, erst einmal genau zu beschreiben, was es mit der "hingebungsvollen Lektüre" vergangener Zeiten auf sich hat. Dafür ist der Finger im Buch ein guter Wegweiser. Er ist ein Widerhaken, der die Vorstellung des Versinkens im Buch, der Koppelung von Intensität und ununterbrochenem Lesen herausfordert. Er steht für die unterbrochene Lektüre, als ein organisches Lesezeichen, das die Stelle markiert, an die Lektüre fortgesetzt werden kann, und zugleich in der Unterbrechung die körperliche Verbindung von Leser und Buch aufrechterhält.

Schon nach wenigen Schritten durch die Bildergalerie ist zweierlei klar. Erstens, dass der junge Mann im Kerzenlicht eine Grenzfigur, fast eine Ausnahme in diesem Essay ist. Er ist die einzige Figur in der Galerie, deren Augen in ein aufgeschlagenes Buch blicken. Er allein steht für die Lektüre selbst, alle anderen für ihre Unterbrechung. Und zweitens wird deutlich, dass es eine gute Idee des Bibliothekars war, Antworten auf die Frage nach der Geschichte des Lesens im Museum zu suchen. Denn die Malerei ist mit der Sichtbarkeit im Bunde, sie interessiert sich wie er selbst für das Buch als Objekt und wer wie damit umgeht, ins Innere der Leser kann sie nicht blicken. Sie kann es nur indirekt darstellen, durch die Darstellung ihres Gesichts- und Augenausdrucks, die Art, wie sie ein Buch halten, durch die Interieurs oder Landschaften, in die sie ihre Figuren stellt, die Kleidung, die sie ihnen anmisst, die Requisiten, die sie ihnen beigesellt.

Seit einiger Zeit interessieren sich die Philologen mehr und mehr für die "Schreibszene" als eine Keimzelle von Autorschaft, verfolgen ihre Verwandlungen vom Zeitalter der Manuskripte bis in die aktuellen Computerwelten. Die Idee des Bibliothekars, eine Bildergalerie zum Motiv "Der Finger im Buch" zu versammeln, überträgt dieses Interesse am Situativen, an Handlungsabläufen und Routinen auf die Geschichte des Lesens.

Die Malerei kommt seiner Absicht entgegen, die Geschichte der Lesestoffe und die Geschichte der Leser, etwa ihrer Alphabetisierung, durch eine "Geschichte der Situationen" der Lektüre zu ergänzen. Der Finger kommt ins Spiel, weil sie das Nicht-Lesen einschließen. "Zum Lesen gehört, gerade wenn es intensiv und gründlich betrieben wird, die Unterbrechung. Niemand liest am Stück intensiv, weder die professionellen Textverarbeiter in den Universitäten oder Medienredaktionen noch literaturversessene Privatleser zu Hause. Als eine durch Unterbrechungen gekennzeichnete Aktivität ähnelt das Lesen dem Schreiben oder Musizieren: Hier ist überall Intensität möglich, die aber nicht dauern kann."

Schneider weiß, dass die Gemälde vom 14. Jahrhundert bis 18. Jahrhundert und die wenigen Fotografien und Statuen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die er kommentiert, keine Schnappschüsse sind, sondern sorgfältig arrangierte Inszenierungen. Er fragt nicht nur, was zu sehen ist, sondern was die Bilder zeigen wollen. Seine Protagonisten stehen für die religiöse Lektüre der Frommen, die professionelle Lektüre der Gelehrten und für das "literarische Lesen", in dem der moderne Roman eine Schlüsselrolle spielt.

Das Erschrecken, mit dem Maria auf Simone Martinis "Verkündigung" aus dem Jahr 1333 auf die Botschaft des Engels reagiert, ist im Neuen Testament enthalten. Hat sie in dem Buch, in dem der Daumen ihrer linken Hand steckt, gerade die Stelle bei Jesaja im Alten Testament gelesen, in der davon die Rede ist, die Mutter des Messias werde eine Jungfrau sein? Maria ist Teil einer doppelten Verwandlung. Sie wird im Zugleich von Erschrecken und unterbrochener Lektüre zur Gottesmutter, und sie ist Teil der Herausbildung einer Bildkonvention, in der die Spindel, an der sie zuvor oft saß, durch das Buch ersetzt wird. Ein sehr weltliches Element sehen die Kunsthistoriker als Voraussetzung dieses Wandels, die zunehmende Bildung adliger Frauen.

Es liegt auf der Hand, dass die unterbrochene Lektüre, wenn sie nicht wie bei Maria in die Zeit der Heilsgeschichte eingelassen ist, mit den Zeitrastern zusammenhängen muss, die im Raum der Lektüre gelten. Schneider zeigt das sehr schön an Frauengestalten aus dem 15. und 16. Jahrhundert, deren Finger in kostbar gestalteten Stundenbüchern die gerade gelesene Stelle markieren. Sie blicken im Profil in eine nicht sichtbare Ferne oder aus dem Bild heraus schräg am Betrachter vorbei. Die Regel, der sie unterliegen besagt, dass der lectio, der Lektüre, die meditatio, das Nachdenken über das Gelesene zu folgen habe. "Der Finger im Buch ist ein Anker ihrer Konzentration und zugleich Anzeichen ihrer geteilten Aufmerksamkeit."

Zwischen zwei Säulen blickt die Frau mit der weißen Haube hervor, deren Daumen und mit einem kostbaren Ring geschmückter Zeigefinger eine Seite des Stundenbuchs festhalten. Der flämische Maler Quentin Massys hat sie im frühen 16. Jahrhundert vor einen dunklen Hintergrund gesetzt, der eine Kirchenloge sein könnte. Es ist ungewiss, ob für sie gilt, was Schneider der vornehmen, von Jacques Daret 1435 porträtierten Dame mit dem unergründlichen Blick zugesteht: "Das Buch mag zeitliche Vorgaben enthalten, wann was zu lesen ist - die eingelegte Pause ist die der Leserin allein."

Der Parcours in Schneiders Galerie führt von den Zeitrastern der frommen Lektüre fort zu den Aristokraten der Renaissance und zu den Gelehrten. Es hat seinen Reiz, an ihre Porträts die Frage zu stellen, was, während die Finger der einen Hand im Buch stecken, die andere Hand macht. Bei dem mondänen, ganz in Schwarz gekleideten jungen Mann, den Agnolo Bronzino, der Hofmaler der Medici in Florenz, im Jahr 1535 gemalt hat, ist die linke Hand selbstbewusst in die Hüfte gestützt, während die rechte Hand auf einem vertikal aufgestellten Buch aufruht. Der Blick des jungen Mannes fasst leicht von oben herab den Betrachter ins Auge, der Finger verweist demonstrativ auf eine gerade unterbrochene Lektüre, auch wenn es klar ist, dass es bei dem Abstand zwischen Auge und Buch und bei der stehenden Position eine eher unbequeme Lektüre gewesen sein muss. Mit Blick auf die boomende Literaturszene in Florenz legt Schneider nahe, dass hier in der Inszenierung des Lesers vor allem die Ambition auf eigene Autorschaft steckt.

Im Jahr 1545 hat Tizian den Anatomen Vesalius porträtiert, dessen Hauptwerk "Sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers" zwei Jahr zuvor erschienen war. Es ist naheliegend, dass es sich bei dem voluminösen Buch, das Vesalius mit der linken Hand an seinen Körper drückt, um dieses Werk handelt, eines der ersten aufwendig illustrierten Bücher der Wissenschaftsgeschichte. Durch den imaginären Raum, in dem hier die unterbrochene Lektüre stattfindet, hallt das Stimmengewirr der Gelehrten. Wenn hier die Finger eine Stelle im Buch markieren, dann nicht lediglich als Lesezeichen, sondern als "Argumentationshilfen". Geradezu herausfordernd debattenfreudig wirkt der Kleriker, der als "Tizians Schullehrer" aus dem Gemälde von Giovanni Batista Moroni auf den Betrachter blickt.

Nach einem Abstecher zu den amerikanischen Theologen und Ärzten in der Zeit der Loslösung von der britischen Kolonialmacht haben die Leserinnen des 18. Jahrhunderts ihren großen Auftritt. Sie verkörpern, etwa in Angelika Kauffmanns Porträt der Lady Henderson, die Lektüre in freier Landschaft, die Natur, von der sie umgeben sind, ist Teil der Gesellschaft, und es bleibt stets ungewiss, ob der Impuls zur Unterbrechung der Lektüre aus dem Buch hervorgegangen ist oder aus der Gesellschaft, auch dann, wenn sie allein sind.

Schneiders Essay erzählt zu jedem Bild eine knappe, auf die Geschichte des Lesens fokussierte Geschichte, im Dialog mit den Kunsthistorikern. Er ist auch deshalb willkommen, weil er die Fixierung auf das Auge und die Gehirntätigkeit lockert. Lesen ist ein ganzkörperlicher Vorgang. Nichts anderes als eine Hand, deren Zeigefinger in einem Gesangbuch steckt, zeigt das wohl im frühen 17. Jahrhundert entstandene kleine Ölgemälde eines Unbekannten im Historischen Museum in Frankfurt am Main. Zum Lesen gehört das Zusammenspiel von Auge und Hand, auch wenn die Finger nur noch leicht über eine Monitoroberfläche wischen.

Ulrich Johannes Schneider: Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild. Piet Meyer Verlag, Bern und Wien 2020. 184 Seiten, 28,40 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: