Inzwischen sind die Täterkinder pensioniert und die Kindeskinder am Zug. Es ist die erste und letzte Chance, den Teufel im Detail zu suchen, nach den wirklichen Biografien der Großeltern zu fragen (oder der Vorvorgänger in den Institutionen des Landes), nach ihren falschen Kompromissen, unguten kleinen Bequemlichkeiten, ihren Lebenslügen und verpassten Handlungschancen - nach all dem also, was in der Masse in die Katastrophe führte. Das ist nicht unbedingt immer angenehm, und von der Vorstellung einer großartigen Ahnengalerie werden sich viele Leute in diesem Prozess genauso verabschieden müssen wie von der Idee, man habe in der zweiten Jahrhunderthälfte komplett von vorne angefangen.
Die Deutschen werden sich nicht mehr darüber identifizieren können, selbst ganz anders zu sein, nämlich immer integer. Passé ist damit auch die Logik, wonach ein Großteil der Bevölkerung zwar eine Kollektivschuld anerkennt, sich aber selbst in familiär und institutionell unbelasteten Traditionen zu wissen glaubt.
Und was kommt stattdessen? Wir sind die lernfähigen Nachfahren der Verbrecher. Der Diskussionsprozess selbst, das Fragen und Zuhören, könnte zum neuen gesellschaftlichen Identifikationsmuster werden: Weil es befreiend ist zu verstehen - und davor bewahrt, die Routine der emotionalen Abwehr in die nächste Generation weiterzutransportieren. Wer das ganze "Was uns nicht tötet, härtet uns ab"-Gehabe der Großeltern und Altvorderen der Republik als Schutzpanzer und Ausweichmanöver durchschaut, der kann sich selbst neugierig und nahbar zeigen - weil er oder sie Konflikte besser zu lösen versteht.
Diesen Weg gehen Historiker, die mit Zeitzeugen arbeiten, schon lange. Auch Literaten und Sachbucherzähler der mittleren und jüngeren Generation haben in NS-Fragen die Fallstudie für sich entdeckt. So hat die Journalistin Katja Thimm in ihrem Buch "Vatertage" minutiös die Vertriebenengeschichte ihres Vaters nachgezeichnet, mit allen Konsequenzen für die westdeutsche Gesellschaft sowie ihre eigene Erziehung. Und die Schriftstellerin Annette Pehnt hat im vergangenen Jahr in "Chronik der Nähe" ein bedrückendes Dreifach-Porträt einer Trümmerfrau mit Tochter und Enkelin entworfen, in dem Gewalt und Herzenskälte seit dem Krieg ihre Kreise ziehen - und doch, dank der Gespräche und Gedankenarbeit, von Generation zu Generation immer weniger werden.
Diesen Trend - Selbstreflexion statt Selbsthass - bündelt der ZDF-Dreiteiler in einem Film der Stunde. Und macht damit populär, was zwischen den Generationen schon seit einiger Zeit im Gange ist.